Für mehr Sinn und Verstand in der Redaktionellen Gesellschaft
Der Newsletter der Looping Group
Corona und die Kommunikations-Revolution
In wenigen Sätzen
Mit seinen Live-Hauskonzerten erreicht Igor Levit auf Twitter Hunderttausende Menschen – der Starpianist ist zu seinem eigenen Sender geworden. Sein Beispiel zeigt, dass in der Redaktionellen Gesellschaft die digitale Öffentlichkeit zur Intimität fähig ist, dass sie Empathie und echten Trost vermitteln kann. Wenn sie richtig genutzt wird.Am 13. März 2020, es war ein Freitag, der Tag, an dem Bundesfinanzminister Olaf Scholz von der „Bazooka“ sprach und die Berliner Schulen für vorläufig fünf Wochen geschlossen wurden, saß der Pianist Igor Levit in Socken an seinem Flügel und sprach in Richtung von zwei iPhones, die er auf zwei Stativen montiert hatte, ein iPhone für Twitter, ein iPhone für Instagram; er sprach zu einer ungefähren Schar von Menschen, die sich gefunden hatten, in diesem Moment, in seiner Musik, irgendwo dort draußen.
„Okay, ihr Lieben“, sagte Levit und klopfte sich dabei aufmunternd auf die Schenkel, er wirkte froh und selbst gespannt und immer noch ein wenig überrascht, dass er die Welt in sein Wohnzimmer eingeladen hatte: „Heute Teil zwei der Hauskonzerte“; kein Beethoven, den er am Abend davor so wunderbar gespielt hatte, die Waldsteinsonate – dieses Mal „eine Hymne, ein Kampflied, ein Lied über Hoffnung, über Gemeinsamkeit, über Ängste, über Glück, über Unsicherheit. Ich dachte mir einfach, das passt zur heutigen Zeit“.
Dann beugte er sich tief über die Tasten, wie er es immer tut, und spielte das Stück „The People United Will Never Be Defeated“ des amerikanischen Komponisten und Kommunisten Frederic Rzewski, der ihm Freund und Inspiration ist: eine Stunde dissonante, wütende, hoffnungsvolle Musik, und knapp 200000 Menschen sah und hörten ihm allein auf Twitter dabei zu – das ist etwa hundertmal die ausverkaufte Hamburger Elbphilharmonie, nur offener, demokratischer, großzügiger, warmherziger und tatsächlich weltumspannend.
Ein Moment der viralen Verbundenheit
„Hello from Barcelona“, „Hello from Nairobi“, „Hello from Washington“, „Danke!”, “Wer braucht schon Bundesliga” und “Friedensnobelpreis“ waren einige der Kommentare, die neben vielen bunten Herzen über den Bildschirm schwirrten – es war ein Moment der viralen Verbundenheit, der realen Anwesenheit im virtuellen Raum, der so nur genannt wird, weil es ein Unbehagen an der technologischen Wirklichkeit gibt, in der wir leben; und die wir nutzen können, wie Igor Levit eindrucksvoll zeigte und zeigt.
Jeden Abend wird Levit, weltweit gefeiert für seine Bach- und Beethoven-Aufnahmen, von nun an ein Hauskonzert geben, solange eben das Coronavirus den Alltag lähmt, Auftritte verhindert, die Menschen verunsichert und oft allein lässt – live übertragen, eine Geste, ein Geschenk in diesen angstvollen Zeiten. Und ein genialischer Einfall, der von einem fast intuitiven Verständnis zeugt für das, was im Momnent geboten und gefordert ist, für ein Gefühl von Verantwortung, Solidarität, Zugewandtheit, die sich in der Redaktionellen Gesellschaft durch die technischen Mittel, die allen zur Verfügung stehen, ganz direkt herstellen lässt.
Social Media House Concert until we meet again to do this in real life.
„Social Media House Concert until we meet again to do this in real life”, hatte er am Tag zuvor seinen damals noch knapp 50000 Twitter-Followern geschrieben, inzwischen sind es deutlich mehr und wachsend. Die Idee war ihm erst an diesem Tag gekommen. Er war zum Elektromarkt am Alexanderplatz geradelt, hatte sich ein Stativ gekauft, das iPhone montiert und sich um sieben Uhr abends an seinen Flügel gesetzt. Als er nach 20 Minuten mit Beethoven fertig war, hatten mehrere 10000 Menschen zugehört; in den folgenden Tagen wuchs diese Zahl bis auf knapp 300000 Menschen.
Was Igor Levit damit geschaffen hat und in den kommenden Wochen weiter schaffen wird – und mit jedem Hauskonzert wird sein Publikum noch wachsen –, das ist ein Beispiel dafür, wie man in einer Krisensituation wie dieser agieren kann, als denkender, fühlender Mensch, der Einsicht hat in die digitalen Möglichkeiten, ein Gespür für den politischen Moment, ein handelndes Subjekt, das seine Autonomie sieht und seine Verantwortung und die neuen Chancen, die sich dabei durch die Technologie ergeben.
Igor Levit zeigt damit, wie diese Krise genutzt werden kann, alte Mechanismen etwa der Kommunikation oder der Information zu verändern und zum Teil radikal neu zu denken. Er wendet sich direkt an die Menschen, ohne mediale Vermittlung, und die Menschen danken es ihm. So entsteht eine Verbundenheit, eine Intimität fast, eine Offenheit und Authentizität, die nur auf scheinbar widersprüchliche Weise technologisch hergestellt ist. Tatsächlich zeigt Levits Beispiel, wie sehr die Digitalität, richtig angewendet, zu mehr Empathie und echtem Trost führen kann.
Und so wird aus dem exemplarischen und genialischen Einzelfall ein Exempel dafür, wie die Redaktionelle Gesellschaft funktioniert, in der alle zu Sendern werden können, je nach Talent und Reichweite, in der sich die Macht der Medien verschiebt, in der Vertrauen anders entsteht, was manche aufregend finden und für sich nutzen und andere verwirrend finden und ablehnen. Und weil die Machtfrage gestellt wird, gibt es auch Widerstand: die Redaktionelle Gesellschaft und ihre Feinde.
Eine Krise kann, anders gesagt, entweder dazu führen, dem Neuen zum Durchbruch zu verhelfen – sie kann aber auch dazu genutzt werden, die alten Verhältnisse zu zementieren oder wiederherzustellen: In den traditionellen Medien erscheint das wie eine Form von Autosuggestion oder Hoffnungsmantra abrufbar. Die „Zeit“ beispielsweise erwartet auf Seite 1 und offensichtlich auch in eigenem Interesse, dass sich die Menschen „wieder an seriösen Menschen und Politikern“ orientieren: Twitter, Blogs und die „authentischen Alternativwelten im Gegensatz zum verhassten Establishment“ kommen nur in der negativen Form und Gestalt von Donald Trump und Konsorten vor.
Das ist insofern überraschend, weil das eigentlich momentan gar nicht die drängende Frage zu sein scheint. Es reiht sich aber ein in ein Lamento, das auch andere Medien anstimmen. „Für ein Leben ohne Sozialkontakte indes gibt es keinerlei Erfahrungen“, steht in der „Süddeutschen Zeitung“, „derlei hat die Natur gar nicht vorgesehen bei einem Lebewesen, welches nackt und so hilflos zur Welt kommt, dass es ohne jahrelange Fürsorge von Artgenossen nicht die geringste Chance hätte“ – was in den nächsten Wochen passieren wird, „kommt einem einzigartigen Experiment gleich: Ist es möglich, jahrtausendealte Prägungen zumindest zeitweise außer Kraft zu setzen?“
So neu, so verwirrend und bedrohlich die aktuelle Situation tatsächlich ist: Die Möglichkeit oder Chance der gegebenen Technologie fehlen hier vollkommen, es wird unmittelbar auf die Steinzeit rekurriert, was sich in der Analyse der Probleme durch das Coronavirus spiegelt, wo die technologische Dimension der Verbreitung weitgehend ausgeklammert wird – in der Reflexion und Analyse der Krise verbleiben viele lieber im Negativen, so scheint es, in der Beschreibung der Probleme und nicht im Blick auf die Möglichkeiten, was dann wiederum nur dem Alten dient und Veränderungen verhindert.
Und so spiegelt sich im Coronavirus und vor allem im Umgang damit vieles von dem, was unsere Gesellschaft zunehmend prägt: der Fokus auf Sicherheit, Stabilität, den Status Quo und nicht der Blick auf die Chancen, die Veränderungen, die neuen und oft genug technologischen Möglichkeiten, ja, geradezu die Abwehr der digitalen Chancen; die Verengung auf die Probleme und damit der fehlende Raum für grundsätzliche Debatten über Lösungen, andere Wege, Auswege, Alternativen zur existierenden Ordnung; eine Verbindung von medialer und politischer Macht, die sich aus eigenem Interesse diesen Veränderungen verschließt.
Dabei würde diese Krise die Chance bieten, grundsätzlich über die Bedingungen unseres Lebens, unseres Wirtschaftens, unserer Politik zu diskutieren, grundsätzlicher als wir es in der Vergangenheit getan haben – und die Angst des Establishments, das um Macht und Einfluss bangt, ist hier geradezu gefährlich, weil sie verhindert, dass emanzipatorisch gedacht und gehandelt wird, im Sinne eines digitalen Individualismus, der Verantwortung direkt definiert und nicht delegiert.
Ein Leuchtturm in diesen viralen Zeiten
Die neuen Kommunikationsmöglichkeiten, das zeigt diese Krise, bieten eine viel umfassendere Möglichkeit, sich zu informieren, und zwar auf eine Art und Weise, die an Tiefe, Kontinuität und Genauigkeit in keinem Vergleich steht zu dem, was die traditionellen Medien in gefiltertem Maß tun; wobei der Filter genau das Problem ist, denn zwischen Absender und Adressat schaltet sich jemand, der oder die im Zweifelsfall deutlich weniger weiß als etwa Christian Drosten, Professor an der Berliner Charité und für viele die Stimme der Vernunft, ein Leuchtturm in diesen viralen Zeiten.
Auch Drosten kommuniziert sehr viel und sehr effektiv über Twitter, die Zahl seiner Follower ist explodiert, und für alle, die sich über den aktuellen Stand der Corona-Situation in Deutschland informieren wollen, macht es absolut keinen Sinn, darauf zu warten, was Journalist*innen vermelden, wenn sie sich direkt und dauernd bei Drosten den neusten Nachrichtenstand holen können. Bei ihm ist eine Verlässlichkeit und ein Vertrauen gegeben, das den traditionellen Medien, manchmal aus gutem Grund, inzwischen abgeht.
Es ist eine neue Form der Expertenkommunikation, die Drosten vorführt und die exemplarisch ist: Nicht Medien haben das Vertrauen, sondern Individuen, die sich durch ihr Wissen auszeichnen. Es sind nicht Journalist*innen, die einschätzen, abwägen, oft ohne tiefere Kenntnis der Materie, es sind die Wissenschaftler*innen selbst, die die Informationen verbreiten. So hat sich das auch in der Klima-Krise entwickelt, in der von Seiten der Wissenschaft eine Apathie der Politik und eine schleichende mediale Inkompetenz umgangen wurde durch den Druck der Straße verbunden mit dem Druck der digitalen Kommunikation.
Für die Demokratie in ihrer klassischen Theorie ist diese Expertenstimme neu oder zumindest eine Herausforderung. Für die demokratische Praxis ist sie eine große Bereicherung. Und so zeigt sich in dieser Krise das Potential des Neuen und auch die Kontur eines anderen politischen Agierens. In diesem Zusammenhang – und auch für die Zeit nach der Corona-Krise – ist der Vergleich zur Klimakrise und der Regierungs-Rhetorik sehr wichtig, weil sich in vielem nun offenbart, von den Sofortmaßnahmen, den bereitgestellten Milliarden bis zur Drastik der Sperrungen und Schließungen, wie viel möglich ist, wenn nur der politische Wille da ist.
Im Zuge der Klimakrise war das nicht der Fall, es war, im Gegenteil, das Argument, dass demokratische Prozesse anders verlaufen, langfristiger, konsens-orientiert. Hier nun, in der Corona-Krise, ist schnelles und radikales Handeln möglich. Das verweist einerseits auf eine Inkonsistenz in der Vergangenheit und eröffnet die Möglichkeit für die Zukunft, auf diesen radikalen Maßnahmen zu beharren. Auf einmal ist das Geld da, „unbegrenzt“, wie es die Regierung verkündet hat. Auf einmal gehen Einschnitte und Verbote, ohne dass Christian Lindner aufschreit. Auf einmal ist die Bedrohung reell, dabei wird sich dieser Virus sehr viel schneller bewältigen lassen und sehr viel weniger Leben kosten als der Klimawandel.
Es zeichnet sich also, in dieser wie in anderen Krisenmomenten unserer Zeit, ein Bild der Zukunft, eine Gestalt des Neuen, wie es das Wesen von revolutionären Zeiten ist. Die Macht des Alten hält das Neue zurück. Das schafft eine Spannung in der Gegenwart, die sich erst löst, wenn das Neue sich durchgesetzt und eine gesellschaftliche Form bekommen hat. Der Durchbruch erfolgt, meistens, in einem Moment der Krise, manchmal auch der Gewalt.
Das Revolutionäre unserer Zeit ist dabei nur auf den ersten Blick klar: Eine Welt im Lock-down. Das Coronavirus hat den Globus im Griff. Die Angst kursiert, die Märkte taumeln, die Regierungen zaudern. Es ist unbekanntes Terrain für alle, und die eingeübten Mechanismen von Hilfe, Solidarität, Zusammenhalt funktionieren nicht mehr. Jeder Besuch kann Krankheit und sogar Tod bringen, Enkel werden zur Gefahr von Großeltern, eine Umkehrung der Fürsorge, verbunden mit einem Zusammenbruch des Sozialen. Wir sind allein.
Aber ist es das? Ist das so? Ist das Coronavirus „the big one”, wie die “Financial Times” schrieb? Und wenn ja, wenn die Märkte kollabieren unter der Konstruktion einer Globalisierung, die nach dem Crash von 2008 nicht wesentlich verändert wurde, im Gegenteil, deren spekulative Exzesse und die Ungleichheit antreibenden Monopolstrukturen sich verstärkt haben – ist das dann der Umbruch, Zusammenbruch des Alten, Durchbruch des Neuen? Und was wäre dieses Neue, das in dieser Krise seinen Ausdruck findet?
Ich glaube, dass in dieser Krise, auch wenn sie für viele Menschen tragisch sein wird, ein großes Potential steckt, das wir nutzen können, um die Welt zum Besseren zu verändern. Das fängt im Kleinen an, im Alltag, in der Genauigkeit der Beziehungen, im Reden, in der Aufmerksamkeit, und es dehnt sich bis ins Systemische aus. Im Grunde steht alles auf dem Prüfstand, und es wird, das glaube ich, kein Zurückgehen zum Zustand davor geben. Die Macht des Neuen hat sich gezeigt, im Schlimmen wie im Guten.
All das schwingt mit in dem Beispiel von Igor Levit, der selbst ein eminent politischer Mensch ist. Die Freiheit seines Denkens, auch in dieser Krise, zeigt sich dabei im Umgang mit der Technologie und seinem Verständnis, als Künstler auch Bürger zu sein, als Bürger auch Verantwortung haben, diese Verantwortung nicht zu delegieren oder medial vermittelt einzusetzen, sondern sie sich zu eigen zu machen, zur eigenen Sache, durch die technologischen Mittel, die ihm und allen anderen in der Redaktionellen Gesellschaft zur Verfügung zu stellen.
Zur Person
Georg Diez war lange Jahre Autor und Kolumnist für Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Die Zeit und zuletzt den Spiegel. Heute arbeitet er als Direktor für Strategie und Medien bei einem unabhängigen Forschungsinstitut.
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