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Corona-Krise: Der Kampf der Europäischen Union gegen Desinformation
LOOPING GROUP Head of Content (Print) und Co-Founder
© Markus Hurek
In wenigen Sätzen
Lutz Güllner ist Leiter der Strategischen Kommunikation der Europäischen Union. In diesen Tagen der Corona-Krise kämpft er mit seinem Team in Brüssel gegen massenhaft gestreute Fake-News und gezielte Desinformationen, die das Wertesystem des Westens unterminieren sollen. Im exklusiven Ping!-Interview plädiert er für eine medienkompetente Zivilgesellschaft, der bewusst sei, leicht zum Opfer von Manipulation werden zu können. Die Politik fordert er auf, die kommerziellen Betreiber der sozialen Plattformen wie Facebook, YouTube und Twitter mehr in die Pflicht zu nehmen. Marken und Unternehmen rät er unter den Bedingungen der Redaktionellen Gesellschaft zu höchster Wachsamkeit in Sachen Brand Safety: „Es ist unglaublich wichtig, proaktiv in den Informationsraum hineinzugehen. Wer eher reaktiv und defensiv ist, macht sich leichter angreifbar.“ RÜDIGER BARTH: Herr Güllner, die Corona-Pandemie hat in den sozialen Netzwerken zu einer Welle von zum Teil gefährlichen Fake-News und dreister Nachrichten-Manipulation geführt. Womit haben Sie es in der Strategischen Kommunikation der Europäischen Union gerade zu tun?
LUTZ GÜLLNER: Nicht von ungefähr sprechen viele von einer „Infodemie“, die parallel zur Corona-Pandemie ausgebrochen ist. Unglaublich viele Informationen zum Wesen der Krankheit und dem Umgang mit ihr, ob richtig oder falsch, sind im Umlauf, und wir beobachten eine deutlich höhere Aktivität an Desinformation – die vorsätzliche Verbreitung falscher Informationen – und schlichter Fehlinformation als zuvor. Der Traffic hat zu einem riesengroßen Amalgam geführt. Dieses wachsende Dickicht durchdringen wir mit unserer Arbeit, Tag für Tag.
Wie schlagen Sie Schneisen durch dieses Dickicht?
Indem wir uns klar fokussieren. Nicht jede Verschwörungstheorie, nicht jede Falschinformation ist ausdrücklich mit einer manipulativen Absicht publiziert worden. Manche organisch gewachsenen Diskussionen in den sozialen Medien üben zwar Einfluss aus, sind aber nicht besonders problematisch. Uns geht es um die koordinierten Aktivitäten, mit klaren Intentionen, mit gezieltem Vorgehen, mit Wirkungsabsichten für ein bestimmtes Publikum. Und diese zielen oftmals darauf ab, das Vertrauen in staatliche Institutionen zu unterminieren oder Verwirrung zu stiften.
Können Sie uns ein Beispiel sagen, dass Sie besonders durchtrieben halten?
Da gibt es einige. Zum einen die vielen Berichte darüber, dass Corona von Menschenhand - also in einem militärischem Labor - gemacht und nur mit dem Ziel in die Welt gebracht worden sei, die Gesellschaften zu kontrollieren. Oder die Geschichte vom bevorstehenden Ende der Europäischen Union. Diese Narrative sind nicht unschuldig oder naiv, sondern verfolgen klare politische Ziele. Und dann gibt es auch den Fall von Sputnik, die ziemlich frech behaupten, dass Händewaschen gar nichts bringe. Das halte ich für durchtrieben.
Stimmt es, dass in Russland auch jetzt „Trollfabriken“ wie die berüchtigte Internet Research Agency m Werk sind, in denen Tausende Mitarbeiter in Schichtdiensten manipulative Social Posts produzieren?
Das können wir vermuten, wissen es aber nicht. Es gibt genug ernstzunehmende Studien, die über die Internet Research Agency in St. Petersburg berichtet haben. Es gibt auch Aussteigerberichte – insofern ist die Existenz solcher Strukturen hinreichend bewiesen. Ob sie aber noch so operieren wie vor einigen Jahr,en als diese Berichte aufkamen, das ist sehr schwer zu überprüfen. Zudem beobachten wir: Die Methoden der Desinformation entwickeln sich weiter, unterliegen starken Wandlungen. Die ursprüngliche Vorstellung, dass ein staatlicher Akteur die Desinformationen steuert, trifft nicht mehr die Realität. Die Realität von heute ist sehr viel komplexer, sehr viel interaktiver.
Potentiell unendlich viele Sender, unendlich viele Empfänger: Das kennzeichnet die Redaktionelle Gesellschaft. Ist der beabsichtigte Effekt dieser Manipulationen, das Wertesystem der Europäischen Union zu unterminieren?
Zunächst mal: Woher wissen wir, welcher Effekt beabsichtigt sein könnte? Wir gehen hier deduktiv vor, indem wir einzelne Mosaiksteine zusammenbauen und sehen, welche Muster erkennbar sind. Welche Strategien werden verfolgt, welche Narrative werden benutzt? All dies dokumentieren wir und publizieren wir. In der Tat gibt es ein übergeordnetes Narrativ, das auf unser Wertesystem im Westen abzielt: Das sei rückständig und überholt und nicht effizient genug. Gerade jetzt in der Corona-Krise wird systematisch die Erzählung gestreut, westliche Demokratien oder die Europäische Union als solches könnten mit dieser Krise gar nicht umgehen und seien total überfordert – gerade wegen ihrer demokratischen Strukturen.
Und dahinter steckt Russland?
Wir sind prinzipiell akteursneutral. Aber wir richten uns danach, was wir sehen können und wo die Beweislage am klarsten ist - wie im Fall von Russland. In diesem Zusammenhang benutzen wir übrigens den Terminus „Pro-Kreml-Akteure“, da es nur um bestimmte russische Akteure und nicht um ein ganzes Land oder eine ganze Gesellschaft geht. Dies können wir durch unsere Arbeit seit 2015 klar dokumentieren. In der Pandemie gibt es wieder Aktivitäten nach einem Muster, das bekannt ist, etwa aus dem letzten US-Wahlkampf. Aber ich muss immer wieder betonen, dass es auch andere Akteure gibt, die etwa China zuzuordnen sind oder dem früher sogenannten Islamischen Staat. Und nicht vergessen werden darf, dass es sehr komplexe Interaktionen zwischen einzelnen Akteuren gibt, die mitunter eine hohe Dynamik entwickeln.
Was können Sie mit Ihrer East StratCom Task Force – als Sonderbeauftragte der Europäischen Union also – dem entgegensetzen?
Es gibt vier Säulen, in denen wir auf europäischer Ebene eng vernetzt arbeiten. Erstens: Wir bringen Licht ins Dunkel. Weil sich die Methoden schnell entwickeln, brauchen wir sehr, sehr gute Instrumente, die einen ersten Überblick ermöglichen. Wir decken auf, wir analysieren, wir publizieren.
Zweitens arbeiten wir eng mit den Regierungen der 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, aber auch mit den G7-Ländern zusammen. In der EU haben wir vor einem Jahr ein Schnellwarnsystem installiert – nicht nur um die Alarmglocken schrillen zu lassen, wenn wir eine Attacke aufspüren, sondern auch um gemeinsame Lösungsansätze zu finden.
Die dritte Säule umfasst die Zusammenarbeit mit den sozialen Plattformen. Das ist extrem wichtig, denn diese Kanäle sind die bedeutendsten Abspielflächen für Desinformation. Die zugrunde liegenden Algorithmen werden manchmal von den Akteuren ganz bewusst ausgenutzt und ausgespielt. Gut ist, dass die Plattformen diese Gefahr sehr ernst nehmen. Aber es muss noch mehr passieren in diesem Bereich.
Und viertens betreiben wir klassische Aufklärung, Medienerziehung. Wir arbeiten viel mit Journalisten zusammen, schulen in Fragen wie: Welche Methoden werden verwendet, wo muss man aufpassen, wie kann man sich schützen? Es gilt, die gesellschaftliche Resilienz, die Widerstandsfähigkeit also, zu schärfen. Und das geht nur zusammen mit der Zivilgesellschaft.
Sind die Plattformen wie Facebook, YouTube, Twitter oder das in der Corona-Krise auffällig missbrauchte WhatsApp da nicht in einem Dilemma? Sie wollen ja gerade nicht kuratieren oder gar zensieren, sondern den offenen Austausch unter den Usern ermöglichen. Zudem hängt ihr Geschäftsmodell an der Vermarktung.
Eindeutig geht es hier auch um das Business Model der Plattformen, um den Anzeigenmarkt, um viel Geld. Aber wir sehen gerade jetzt in der in der gegenwärtigen Situation bei den kommerziellen Betreibern eine größere Bereitschaft, enger mit uns zu kooperieren. In der aktuellen Krise sehen Sie, dass die Plattformen enorm viel unternehmen. Wenn Sie Facebook aufschlagen, finden Sie an prominenter Stelle den Link zu überprüften, getesteten Quellen – so werden sofort Referenzpunkte geschaffen. Wo es aber hapert, und was sehr wichtig wäre, das ist Transparenz. Da muss noch ein deutlicher regulativer Rahmen - gerade auf europäischer Ebene - entwickelt werden.
Was bedeutet Transparenz hier konkret?
Wir wissen nach wir vor nicht, auf welcher Grundlage die Plattformen agieren: Welchen Post nehmen sie von der Seite, warum andere nicht, welche Kriterien liegen dem zugrunde? Zudem haben Wissenschaftler viel zu wenig Möglichkeiten, Daten einzusehen – aber nur so könnten wir in der Tiefe begreifen, wie Desinformationskampagnen funktionieren. Das sind Punkte, die wir in jedem Fall weiterentwickelt sehen möchten.
Marketing-Entscheider sehen sich in der Redaktionellen Gesellschaft einer kaum kontrollierbaren Kommunikations-Lage gegenüber, die die Marke, für die sie verantwortlich zeichnen, bedrohen kann. Ein prominentes Opfer war kürzlich Unicef. Manche Marken betreiben inzwischen eine eigene Brand Safety, um sich gegen Fake-News zu schützen. Was ist Ihr Rat?
Für Institutionen wie Unternehmen ist es unglaublich wichtig, proaktiv in den Informationsraum hineinzugehen. Wer eher reaktiv und defensiv ist, macht sich leichter angreifbar. Wir als Europäische Union stehen selbst immer wieder im Kreuzfeuer von Desinformation. Mein Rat: sich wirklich bewusst machen, dass es diese Desinformation gibt, dass diese auch mal gezielt, koordiniert und mit ganz klarer Absicht gegen die eigene Institution oder das eigene Unternehmen verbreitet werden kann.
Was raten Sie jedem einzelnen Bürger?
Als Konsument, als Bürger, der genauso wie Sie soziale Medien benutzt und genauso mit seinen Freunden in Kontakt ist, rate ich zunächst mal dies: Keine Paranoia entwickeln. Auf der anderen Seite aber Vorsicht walten lassen. Ich empfehle drei Dinge: Immer quellenkritisch vorgehen. Selbst wenn meine engste Familie mir Botschaften weiterschickt, frage ich mich, welche Absicht der ursprüngliche Absender verfolgen könnte. Zweitens suche ich bei den Inhalten, gerade bei journalistischen, nach Qualitätsstandards: Sind die Quellen korrekt benannt? Sind Interviews richtig gekennzeichnet? Drittens frage ich mich: Sind Vergleichsquellen angegeben? Werden pro und contra vorgestellt oder wird nur eine Meinung verbreitet, die suggestiv wirken soll?
Und was fordern Sie von Gesellschaft und Politik?
Zwei Dinge: Dass die Gesellschaft ein stärkeres Bewusstsein entwickelt, in der heutigen Medienlandschaft sehr viel einfacher zum Opfer von Manipulation werden zu können. Dafür brauchen wir eine gut strukturierte, wache, medienkompetente Zivilgeselllschaft, die unterstützt wird durch Fact Checkers, NGOs, Wissenschaftler, Journalisten. Zweitens müssen sich die Regierungen fragen, ob die Regeln, die für soziale Plattformen gelten, ausreichend sind und ob diese klar genug formuliert sind. Hier ist die europäische und die nationalstaatliche Ebene gleichermaßen gefragt. Diese Plattformen haben eine Rechenschaftspflicht. Ich wünsche mir, dass deren Betreiber durch die Politik ganz deutlich in die Pflicht genommen werden.
Zur Person
Lutz Güllner arbeitet im Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) als Referatsleiter für Strategische Kommunikation und Informationsanalyse und befasst sich in seiner Arbeit in erster Linie mit den Themen Desinformation, Manipulation der Informationsräume und hybride Bedrohungen. In seinen Aufgabenbereich fallen unter anderen die speziell geschaffenen Task Forces zur Strategischen Kommunikation in der östlichen Nachbarschaft, dem westlichen Balkan und dem Raum südliches Mittelmeer und Naher Osten. Zuvor leitete Herr Güllner das Kommunikationsteam des EAD, sowie auch der Generaldirektion Außenhandel der Europäischen Kommission. Von 2009-2010 war Herr Güllner Pressesprecher der Hohen Beauftragten der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Lady Ashton. Er war auch Kommissions-Pressesprecher für Fragen des Außenhandels. Andere Aufgabenfelder waren die stellvertretende Leitung des Referates "Handelsstrategie", die bilateralen Handelsbeziehungen mit den USA, als auch die wirtschaftlichen Beziehungen der EU mit Russland. Vor seinem Eintritt in den Dienst der Europäischen Kommission hat er unter anderem als Unternehmensberater in Brüssel sowie im französischen Umweltministerium gearbeitet. Herr Güllner hat Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Internationale Politische Ökonomie studiert. Er erhielt Diplome der Freien Universität Berlin sowie des Institut d'Etudes Politiques de Paris (Sciences Po). Er hat einen Lehrauftrag im Rahmen des Postgraduierten-Studiengangs Europawissenschaften der Humboldt Universität und der FU Berlin.
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