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Harvard-Professor Niklas Maak: „Ein neues Verständnis von Nähe"
Strategist LOOPING GROUP
©Privat
In wenigen Sätzen
Die Redaktionelle Gesellschaft verändert nachhaltig die Art, wie unsere Städte funktionieren. Ihre Gebäude, ihre Prozesse, ihre Funktion. Sie verschiebt die Balance zwischen öffentlichem und privatem Raum, forciert den Rückzug ins Private. Dadurch verschwindet aber keineswegs die Sehnsucht der Menschen nach Nähe – stattdessen werden ganz neue Formen von Nähe möglich. So wird es auch in der Stadtplanung vor allem darum gehen, Intimität und Rückzug mit Kollektivität und Gemeinschaft zu vereinbaren. Und Für-Sich-Sein mit Beisammensein zu verbinden. Ein Gespräch mit Niklas Maak, Harvard-Professor und FAZ-Kunst- und Architektur-Kritiker.
Ping!: Herr Maak, wo erreiche ich Sie?
Niklas Maak: In einem Hotel in Köln, deswegen auch dieser komische cremefarbene Hintergrund. Was ist denn das bei Ihnen im Hintergrund? Eine Zeichnung von einem Tennisschläger?
Ja, genau. Das Bild daneben zeigt einen Bananenbaum.
Die Zeichnung vom Tennisschläger ist doch ganz hübsch.
So wie wir sprechen aktuell viele Menschen über Video-Chat. Die Redaktionelle Gesellschaft schaut sich permanent selbst ins Wohnzimmer.
Viele Menschen, mit denen ich per Video-Chat gesprochen habe, saßen sogar auf ihrem Bett. Wir erleben gerade einen grundlegenden Wandel, den wir noch gar nicht richtig begreifen; das Haus war ja traditionell der Raum, in den wir uns zurückgezogen haben. Vor allem das Schlafzimmer war immer ein privater, ein intimer Ort. Jetzt machen wir aber sogar dort über den Laptop das, was man früher auf dem Marktplatz getan hat: Dinge produzieren, Handel betreiben, Neuigkeiten austauschen. Die gelernte Trennung, dass die Straße der öffentliche Raum ist und das Haus, vor allem das Schlafzimmer, der private, ist gekippt.
Wenn selbst der privateste Raum öffentlich wird, leben wir dann in einer permanenten Öffentlichkeit?
Das kann man so sehen. Wenn das Internet der Dinge sogar meinen Schlaf trackt und ich morgens auf meiner iWatch meine „Schlaf-Performance“ nachschauen kann, dann ist selbst der Schlaf nicht mehr privat. Ich wäre mir da andererseits nicht so sicher – vielleicht wird ja jetzt der öffentliche Raum zum neuen Rückzugsort. Wenn jemand acht Stunden vor dem Laptop sitzt und sich filmen lässt, so wie wir das gerade tun, und dann nach Feierabend auf die Straße geht, um etwas Luft zu schnappen – dann ist das vielleicht ein sehr privater Moment.
Das hieße, wir erleben die Umkehrung der Begriffe. Unser Rückzugsort wird öffentlich und die Öffentlichkeit unser Rückzugsort.
Ich glaube, dass wir bestimmte Begriffe schlicht aufgeben müssen. Und die Unterscheidung von privat und öffentlich bietet nicht die beste Beschreibung dafür, wie wir derzeit wohnen und leben. Außerdem bin ich kein Freund des Wortes „privat“. Im Lateinischen bedeutet „privare“ ja unter anderem rauben, jemandem etwas wegnehmen. Unsere Idee von Privatheit basiert also auf einem ungesunden Konzept: Nämlich auf dem Gedanken, dass wir in ein Kollektiv geboren werden und im Akt der Individuation aus diesem Kollektiv heraustreten, indem wir uns ein Stück Land sichern und das dann mit Mauern und Zäunen abgrenzen. Das Private gegen die Begehrlichkeiten der anderen zu verteidigen, im Kern ist das ein kriegerischer Individualismus.
Wenn der Gegensatz von Privatem und Öffentlichem unser Zusammenleben nicht mehr treffend beschreibt, welche Begriffe leisten dies stattdessen?
Ich glaube nicht, dass wir diese neuen Beschreibungen schon gefunden haben, wir werden sie verhandeln müssen. Im Französischen gibt es einen schönen Ausdruck, der zeigt, dass Für-Sich-Sein das Beisammensein nicht ausschließen muss: Être chez-soi. Das bedeutet: Ich bin der Gast von jemandem, der ich selbst bin. Das ist eine philosophische Miniatur, die ausdrückt: Ich kann nur ich selbst sein, wenn ich zwei Personen bin, ein Gastgeber und einer, der um Einlass bittet. Mein Ideal, das Leben nach meinem Rhythmus zu führen, braucht also schon die kleinstmögliche Öffentlichkeit: mich selbst.
Wie übersetzt sich dieses Zusammenfallen von Öffentlichkeit und Privatraum auf die Architektur?
In der Architektur – aber auch in größeren gesellschaftspolitischen Zusammenhängen – wird es vor allem darum gehen, Intimität und Rückzug, das Für-Sich-Sein, mit Kollektivität und Gemeinschaft zu verbinden. Wie schaffen wir Räume, die nicht jedem Neuankömmling, jedem Besuch, jedem Gast gleich signalisieren: Hier beginnt mein Herrschaftsbereich, hier gehorchst du meinen Gesetzen.
In der Architektur markiert die Fassade die harte Grenze zwischen Draußen und Drinnen – bald eine überholte Trennung?
Der Straßenraum wird eh nur in der westlichen Architektur durch eine Fassade vom Innenraum getrennt. Wenn Sie etwa in Marokko auf einen Markt gehen und dort in einen der vielen Teppich-Läden, dann betreten Sie einen Dschungel aus Produkten, in dem Sie sich immer weiter vortasten. Es ist gar nicht so klar: Ist das noch eine Straße, auf der Teppiche liegen? Oder schon das Lager des Händlers? Der Übergang vom Intimen ins Öffentliche durch ein solches Dickicht ist viel sanfter, als einfach eine Tür oder eine Mauer dazwischen zu bauen.
Werden harte Fassaden dann auch in der westlichen Architektur verschwinden?
Es gibt zumindest immer mehr Bauprojekte, die auf die klassische Fassade verzichten. Stattdessen beginnt das Haus dann mit einem tiefen Raum, etwa mit einer riesigen, begrünten Terrasse. Das ist zum einen ökologisch sinnvoll, weil die Pflanzen Hitze fernhalten und Luft filtern. Es ist aber auch sozial interessant. Denn durch die Wegnahme der Fassade wird die Behauptung aufgelöst, klar das Draußen vom Drinnen trennen zu können. Es entsteht ein Raum, weder öffentlich noch privat, in dem Gast und Gastgeber, Fremder und Bewohner miteinander verhandeln: Wie weit darf ich gehen? Ab wann muss ich eingeladen werden? Wie viel Nähe lassen wir zu?
Sie beschreiben, wie die Redaktionelle Gesellschaft neue Räume kreiert. Aber schafft sie nicht auch etablierte Räume ab? Wer braucht noch Bürotürme, wenn es das Homeoffice gibt?
Wir erleben gerade, wie eine Mischung aus technologischem Wandel und ökonomischem Druck das ganze System Stadt umschmeißt. Dieser eingeübte Vorgang, dass der Mensch außerhalb wohnt, sich morgens in seinen Diesel setzt, eine Stunde durch den Morgenstau Richtung Stadt fährt, dort tagsüber in einem Turm arbeitet und sich abends wieder auf den Heimweg macht, ist unterbrochen. Weil es technisch möglich, ökonomisch günstig und epidemiologisch sinnvoll ist, Angestellte vom Wohnzimmer aus arbeiten zu lassen.
Wenn wir nicht mehr ins Zentrum fahren, um dort zu arbeiten – was ist dann noch die Funktion des Zentrums?
Es stellen sich noch mehr Fragen: Wenn wir nicht mehr in die Stadt fahren, um dort zu shoppen, dort ins Kino zu gehen oder unsere Bankgeschäfte abzuwickeln – was ist dann noch die Funktion des Zentrums? Und was machen wir mit den Tausenden Bürotürmen, Postämtern, Sparkassen und Einkaufszentren, die perspektivisch leerstehen?
Gemeinsam mit ihren Studentinnen und Studenten geben Sie eine Antwort auf diese Frage.
In der Nähe von New York planen wir, eine leerstehende Shopping Mall so umzubauen, dass aus den Läden kleine Wohneinheiten werden, in die dann etwa Singles oder junge Familien einziehen können, die wenig Geld haben. Auch die großen Ladenflächen bauen wir um. Dort entstehen dann Räume, in denen Studentinnen und Studenten Wohngemeinschaften gründen oder Alleinerziehende, die ihre Kinder gemeinsam mit anderen Alleinerziehenden aufziehen wollen, wohnen können. Uns geht es darum, neue Wohnformen auszuprobieren, normierte Räume aufzubrechen, in die Menschen ihre Lebensentwürfe zu oft fügen müssen.
Einkaufszentren und Büros in Wohnungen verwandeln – könnten wir so die Wohnungsnot lindern, die in vielen Großstädten herrscht?
Nur dann, wenn diese leerstehenden Gebäude in kostengünstige Wohnungen verwandelt werden. Bisher war es oft so, dass ehemalige Produktionsstätten entweder in Luxus-Malls oder teure Lofts umgewandelt wurden, etwa im Meat Packing District in New York. Da sind dann zehn privilegierte Leute in eine ganze Fabrik eingezogen und hatten jeder 800 Quadratmeter Fläche für sich.
Was hält denn Ihre Hoffnung aufrecht, dass die Redaktionelle Gesellschaft weiterhin auf physische Interaktion und belebte Stadtzentren bestehen wird? Vorstellbar ist auch, dass wir alle zu Hause bleiben und Arbeit, Konsum und Kontakte digital organisieren.
Aber Menschen sind doch keine Roboter – sondern soziale Wesen, die Sehnsucht nach Kontakt haben. Wir sehen doch gerade jetzt, wie schwer es den Leuten fällt, Abstand zu halten, nicht rauszugehen, sich nicht zu verabreden. Außerdem wird jede Erfindung auch entgegen ihrer Bestimmung gebraucht. Kürzlich habe ich einen sehr klugen Text von Laura Helena Wurth gelesen, der argumentierte, dass das körperliche Verhältnis von Männern zueinander sich ändern wird, weil sie neuerdings zu zweit und eng aneinander geklammert auf E-Scootern durch die Gegend fahren. Das Bedürfnis nach körperlicher Nähe verschwindet nicht mit der Digitalisierung, ganz im Gegenteil. Der Reiz der Digitalisierung liegt in vielen Lebensbereichen eher darin, dass neue Formen von Nähe möglich sind, wo es früher gar nicht denkbar war.
Wird dieses Bedürfnis nach Nähe gerade jetzt den öffentlichen Raum beleben? Wir wissen, dass Covid-19 sich vor allem in geschlossenen Räumen überträgt – draußen sind wir sicherer als drinnen.
Die Gesellschaft hat in den letzten Jahren die Öffentlichkeit vermehrt nicht mehr als Ort des Versprechens wahrgenommen, sondern als Ort der Gefahr. Das kann man auch an ihren Objekten ablesen. Autos sind in den 60er-Jahren etwa mit großzügigen Fenstern gebaut worden, ließen viel Sonne in den Innenraum, der Fahrer wollte gesehen werden. Viele der aktuellen Auto-Designs repräsentieren Aggressivität, als ginge es darum, unbeschadet ein Kriegsgebiet zu durchfahren. Jetzt, wo der Aufenthalt in luftdicht abgeschlossenen Räumen potenziell lebensgefährlich ist, kommen die diversen Rituale der Abschottung vielleicht an ihr Ende. Die Epidemie zwingt die Leute, rauszugehen und einen vormals distanzierten Raum wieder als Treffpunkt zu verstehen. Und so vielleicht ein neues Verständnis von Nähe zu entwickeln.
Zur Person
Niklas Maak, geboren 1972 in Hamburg, studierte dort und in Paris Kunstgeschichte, Architektur und Philosophie und promovierte 1998 zur Entwurfstheorie Le Corbusiers. Er unterrichtete als Gastprofessor an der Frankfurter Städel-Kunsthochschule und seit 2014 in Harvard. Maak leitet das Kunst- und Architekturressort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Für seine Essays und Bücher erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Zuletzt erschienen von ihm „Durch Manhattan“ (Hanser, zusammen mit Leanne Shapton) und der Roman „Technophoria“ (Hanser), der zurzeit verfilmt wird.
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