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Luis von Ahn: „Ich glaube, dass Computer in Zukunft die besseren Lehrer sein werden“
In wenigen Sätzen
Der Zugang zu guter Bildung darf keine Frage des Geldes sein, sagt Informatik-Professor Luis von Ahn, CEO der kostenlosen Online-Sprachschule Duolingo, die weltweit 300 Millionen Menschen nutzen. Aufgewachsen in Guatemala, setzt sich der hochdekorierte, in den USA forschende Mathematiker für die Sprachkompetenz gerade armer Menschen ein. Im Ping!-Interview erzählt er, wie die Corona-Krise den Zugang zu Bildung verändert, warum Computer als Sprachlehrer beliebter sind als Menschen – und stellt sich der Frage, was in der Redaktionellen Gesellschaft zum Bildungskanon gehören könnte.
The interview was edited for better readability. Listen to the unabridged interview in the Ping! podcast!
Ping!: Luis, Sie sind ein sehr bescheidener Mensch und führen den Großteil Ihres Erfolgs darauf zurück, dass Sie das Glück hatten, als Kind Englisch lernen zu können. Wie wichtig ist es heute, die englische Sprache zu beherrschen?
Luis von Ahn: Studien zeigen: Mit guten Englischkenntnissen lässt sich in vielen Ländern das monatliche Einkommen verdoppeln. Das ist zum Beispiel in meinem Heimatland Guatemala der Fall. Wer dort kein Englisch beherrscht, verdient schlicht weniger. Das betrifft aber auch Bereiche in hochindustriellen Gesellschaften: Wir leben in einer Zeit des technologischen Fortschritts. Wenn Sie im Feld der Technologie etwas erreichen wollen, geht das heute ohne Englischkenntnisse kaum.
Sie leben seit mehr als 20 Jahren in den USA. Ihrer Meinung nach schafft Bildung dort und anderswo keine Chancengleichheit, sondern verstärkt die Unterschiede. Warum ist das so?
Das hängt zwar sehr stark vom jeweiligen Land ab, aber letztlich passiert vor allem in den USA dies: Menschen mit viel Geld kaufen sich die beste Bildung. Sie besuchen Universitäten wie Harvard oder Stanford, bilden sich weiter und stellen so sicher, dass sie auch in Zukunft viel Geld besitzen, während ärmere Menschen kaum lesen und schreiben lernen und deshalb auch nicht in der Lage sind, mehr Geld zu verdienen. Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen: In den meisten Ländern treibt Bildung die sozialen Klassen auseinander anstatt sie zu vereinen.
In der Bildungspolitik ist seit Jahrzehnten von der Schaffung einer „Chancengleichheit“ die Rede. Was verstehen Sie unter dem Begriff?
Ganz einfach: Bildung darf keine Frage des Geldes sein. Das ist mir persönlich auch wirklich wichtig und übrigens auch der Hauptgrund, warum man auf Duolingo kostenlos Sprachen lernen kann. Kann ich Ihnen kurz eine Geschichte erzählen?
Ja, klar, bitte.
Einer der stolzesten Momente in der Duolingo-Geschichte ereignete sich vor wenigen Jahren. Es war der Moment, als ich herausfand, dass syrische Flüchtlinge in der Türkei Duolingo nutzten, um Türkisch zu lernen. Diese Menschen hatten ihren gesamten Besitz verloren, sie waren bettelarm. Und wissen Sie, was ich nur wenige Tage später herausfand?
Nee.
Dass Bill Gates Duolingo benutzte, um Französisch zu lernen! Diese beiden Tatsachen machten mich sehr stolz, denn sie bedeuteten, dass man sich mit allem Geld der Welt kein besseres System als Duolingo kaufen konnte. Anders gesagt: Wenn die ärmsten Menschen der Welt und einer der reichsten Männer der Welt genau dasselbe System verwenden, um eine Sprache zu lernen, das ist Chancengleichheit in der Bildung!
Sehen Sie eine Parallele zwischen dem Aufstieg der Redaktionellen Gesellschaft und der eben beschriebenen Chancengleichheit in der Bildung?
Ich bin mir nicht sicher, was genau sie meinen. Würden Sie die „Redaktionelle Gesellschaft“ kurz für mich definieren?
In zwei Sätzen: In der Redaktionellen Gesellschaft ist nahezu jeder Akteur, jeder Internetnutzer ein Sender und Empfänger von Botschaften, Wahrheiten und Lügen. Es gibt keine Monopole mehr.
Ah, okay, hab's kapiert. Danke! Also, um auf Ihre Frage zurückzukommen: So wie das Internet im Allgemeinen Chancengleichheit in der Bildung ermöglichen kann, ist es auch für die Redaktionelle Gesellschaft verantwortlich. In dieser Hinsicht sehe ich also Ähnlichkeiten. Dennoch bin ich etwas skeptisch, ob beides sich so gut ergänzt.
Wie meinen Sie das?
Ich glaube nicht, dass es auf Dauer eine App geben wird, mittels der sich die Leute gegenseitig unterrichten werden. Denn leider bin ich der Überzeugung, dass die meisten Menschen ziemlich schlechte Lehrer sind. Und deshalb wird eine Menge Arbeit nötig sein, um ein System zu entwickeln, das die Menschen gut unterrichtet und das von vielen genutzt werden kann.
Verstehe ich Sie richtig: Sie wollen sagen, dass selbst innerhalb einer aufgeklärten Redaktionellen Gesellschaft Computer eigentlich die besseren Lehrer sind?
Ich sage nicht, dass sie bereits heute so weit sind. Aber: Ja, ich glaube, dass Computer in Zukunft die besseren Lehrer sein werden.
Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Wir haben es bei Duolingo versucht. Wir haben es mit Menschen in der App versucht, die versuchen, einem anderen Menschen eine Sprache beizubringen. Und wir haben Computer eingesetzt, um Menschen eine Sprache beizubringen. Und das Ergebnis war: Die meisten Menschen bevorzugen den Computer als den Lehrer.
Warum?
Einer der Hauptgründe ist: Die Interaktion mit einem fremden Menschen in einer fremden Sprache hat bei vielen Menschen ein Unbehagen, bei manchen sogar Angst ausgelöst. Sie haben das Erlernen der Sprache abgebrochen, weil sie Angst hatten, vom Gegenüber beurteilt zu werden. Bei der Interaktion mit dem Computer dagegen dachten die Leute, der Computer würde sie nicht beurteilen, obwohl er sie selbstverständlich beurteilt hat. Sie hatten aber das „Gefühl“, er wäre ihnen gegenüber „neutral“.
Vertrauen Menschen einem Computer also mehr als einem anderen Menschen?
Ich würde hier nicht von Vertrauen sprechen. Ein hervorragender Sprach-Tutor, dem Sie vertrauen, weil er nachweislich eine Sprache sehr gut beherrscht, ist heute immer noch effektiver als jeder Computer. Als wir diese Experimente bei Duolingo durchführten, haben wir jedoch herausgefunden, dass zwischenmenschliche Konversation eine Menge sozialer Ängste hervorrufen kann.
Mit sozialen Ängsten haben wir es auch seit Ausbruch des Corona-Virus zu tun. Fast überall auf der Welt waren oder sind Schulen und Universitäten wegen der Pandemie geschlossen. Kaum ein Land war auf diese Situation vorbereitet. Für jemanden wie Sie, der Chancengleichheit in der Bildung propagiert: Was fällt Ihnen ein, wenn Sie diese Tristesse von geschlossenen Schulen und Universitäten sehen?
Das ist ein echtes Problem, denn Schulen sind mehr als der Ort, an dem Kinder unterrichtet werden. Aber glücklicherweise ist das Ganze jetzt und nicht vor 20 Jahren passiert. Vor 20 Jahren hätte es keine anderen Möglichkeiten gegeben. Die Kinder wären zu Hause geblieben, ohne Chance auf Online-Bildung. Bei Duolingo haben wir in den letzten Wochen einen massiven Daten- und Nutzungsanstieg erlebt. Im Falle Chinas hat sich unser Datenverkehr fast verdoppelt. Im Falle Italiens ist er um 70 bis 80 Prozent gestiegen. In der letzten Woche ist unser Datenverkehr in den Vereinigten Staaten um 40, 50 Prozent gestiegen. Im Falle der Schulschließungen sind wir heute also in einer viel besseren Position als noch vor 20 Jahren.
Wird diese globale Erfahrung mit der Pandemie das Thema Bildung verändern?
Ja, es wird sie ziemlich verändern. Wir erleben ja bereits, dass Videokonferenzen viel normaler sind, als sie es je waren. Ich glaube auch, dass die Akzeptanz der Online-Bildung deutlich nach oben gehen wird. Die Menschen werden erkennen, dass Online-Bildung eigentlich genauso gut oder sogar besser ist, als sie erwartet haben. Ein Beispiel: Wir bieten einen zertifizierten Englischtest an, den Sie online ablegen können. Er wird Duolingo-Englisch-Test genannt. Es handelt sich um eine Konkurrenz zu Tests wie dem TOEFL oder dem Cambridge English Test. Für diese Tests müssen Sie sich in ein physisches Testzentrum begeben, um den Test zu absolvieren. In den letzten Monaten wurden all diese physischen Testzentren jedoch geschlossen und viele Leute haben begonnen, unsere Tests online zu machen. Viele Menschen werden erkennen, dass es lächerlich ist, wenn man sich physisch in ein Testzentrum begeben muss, um einen solchen Test zu machen.
Jetzt haben wir viel über Tests, Computer und Chancengleichheit gesprochen – aber noch nicht über Bildungsinhalte. Was gehört heute im Rahmen der Redaktionellen Gesellschaft eigentlich zum Bildungskanon?
Puh, das ist eine sehr schwere, aber auch sehr interessante Frage. Es gibt ja eine ungefähre Übereinkunft über Ländergrenzen hinweg, was in Sachen Bildung relevant und was weniger relevant ist. Mathematik, Philosophie oder Sprachen lernen gehört zur Bildung ebenso wie Programmieren lernen. Aber das, was Bildung ist oder zur Bildung gehört, ändert sich auch mit der Zeit. Was gestern wichtig war, kann heute bereits bedeutungslos sein. Vielleicht geht es ja heute eher darum zu wissen, wie man ein wirklich gutes TikTok-Video macht?
Ja, vielleicht. Eine andere bildungsnahe Schlüsselfähigkeit unserer Zeit ist sicher auch, aus einer Idee ein erfolgreiches Unternehmen zu machen. Sie, Luis, haben in relativ jungen Jahren mit „ESP Game“ und „reCAPTCHA“ zwei Unternehmen an Google verkauft. ReCAPTCHA ist das heute weit verbreitete System, bei dem jeder Nutzer auf einer mit Google verknüpften Website aufgefordert wird, verschnörkelte Buchstaben und Zahlen zu lesen und einzugeben, um zu beweisen, dass er kein sogenannter „Bot“ ist. Schätzungsweise 200 Millionen Menschen müssen diese zermürbende und auch etwas lästige Aufgabe täglich erledigen. Und Sie, Luis, haben es erfunden! Unter uns, wie oft mussten Sie sich dafür bisher entschuldigen?
Wann immer ich darauf angesprochen werde, sagen die Leute: „Oh, ich hasse diese Dinger!“ Ich musste mich also schon sehr oft entschuldigen. So etwa 200 Millionen Mal. Aber sie sehen ja, heute biete ich kostenlosen Sprachunterricht im Netz an. Ich versuche also, meine Schuld an der Gesellschaft zu begleichen.
Apropos. Wissen Sie, ob Bill Gates jetzt fließend Französisch sprechen kann?
(lacht) Nein, das weiß ich nicht.
Zur Person
Luis von Ahn, 41, stammt aus Guatemala, hat zunächst Mathematik an der Duke University in North Carolina, USA, studiert und anschließend Informatik an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh. Als Informatik-Professor spezialisierte er sich auf „Human Based Computing“. Vereinfacht gesagt widmete er sich der Frage, wie Menschen und Computer am besten zusammenarbeiten können, um komplizierte Aufgaben zu lösen. 2006 wurde er für seine Forschungen mit dem prestigeträchtigen „MacArthur Fellows Program Award“ ausgezeichnet, der in den USA auch als „Genius Grant“ bekannt ist. 2011 erhielt er den „Grace Murray Hopper Award“ für seine Forschung zur Mensch-Maschine-Interaktion. 2018 verliehen ihm das Massachusetts Institute of Technology (MIT) und die Lemelson Foundation die höchstdotierte (500.000 $) US-amerikanische Auszeichnung für technische Innovationen: den „Lemelson-MIT-Preis“. Dabei dürfte die Dotierung des Preises für Luis von Ahn keine große Rolle gespielt haben. Bereits mit Anfang 30 hatte er keine Geldsorgen mehr. Damals verkaufte er nicht ein, sondern gleich zwei Unternehmen an Google. Heute ist Luis von Ahn CEO und Mitbegründer des Online-Dienstes Duolingo mit Sitz in Pittsburgh. Duolingo ist mit mehr als 300 Millionen Nutzern die weltweit beliebteste App, um eine Sprache zu lernen.
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