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Mercedes-Designchef Gorden Wagener: „Wir erschaffen das Außergewöhnliche“
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In wenigen Sätzen
Wie inszeniert ein Gestalter von Weltruf unter den Bedingungen der Redaktionellen Gesellschaft neue Trends? Wie entwickelt er das Design einer Weltmarke wie Mercedes-Benz stetig weiter? Gorden Wagener, Chief Design Officer der Daimler Group, sieht die sozialen Netzwerke als Inspirationsquelle, vor allem auch als hilfreiches Instrument, um den Grad der Irritation zu messen, die der Stil seines Hauses auslöst. Wer im Design wirklich Neues erschaffen und den Luxus von morgen definieren will, muss sich bewusst vom Mainstream absetzen. Exklusives Ping!-Interview über Kollaborationen, den Anspruch Karl Lagerfelds und die Frage, was deutscher Design-Tradition fehlt.
Ping!: Herr Wagener, in der Redaktionellen Gesellschaft ist jeder Sender, jeder ist Empfänger. Inwiefern beeinflusst die Meinung des Netzes die Entwicklung von Gestaltung?
Gorden Wagener: Natürlich sucht man als Kreativer überall nach Inspiration, auch im Netz. Bei jedem neuen Gestaltungsprozess schauen wir jedoch zunächst nach innen, schöpfen aus uns selbst. Was wir kreieren, ist Luxus. Was aber ist Luxus? Der entscheidende Begriff für uns ist „extraordinary“. Wir suchen also das Außergewöhnliche. Wir erschaffen das Außergewöhnliche.
Das Außergewöhnliche polarisiert die Menschen. Ist das gewünscht?
Das muss ja gar nicht jedem gefallen! Sonst wäre es nicht extra-ordinär, sondern Mainstream. Und vom Mainstream wollen und müssen wir uns als Luxus-Gestalter abheben. Nehmen wir unsere aktuelle Kollaboration mit Virgil Abloh…
… dem Künstler und Modedesigner…
… mit dem wir gemeinsam das Kunstwerkt „Project Geländewagen“ gemacht haben. Da ernten wir begeisterte Reaktionen im Netz, vor allem aus der Fashion-Ecke. Und dann gibt es die Hardcore-Fans der G-Klasse, die das ganz schrecklich finden. Auch das ist okay! Die im Netz geäußerten Meinungen sind ein guter Gradmesser, was wir mit unserer Gestaltung auslösen. Wenn wir uns am Mainstream orientieren würden, könnten wir als Mercedes-Benz nie etwas wirklich Neues kreieren. Und je weiter Du als Designer gehst, desto provozierender und verstörender wird es für Leute, die nur im Hier und Jetzt sind.
Die Redaktionelle Gesellschaft ermöglicht Ihnen eine Echtzeit-Messung der Irritation, die Sie erschaffen haben?
Wobei die Reaktionen im Netz oftmals sehr impulsiv geäußert werden; man muss also nicht auf jede Äußerung hören. Unser Designkonzept der „Sensual Purity“, der „Sinnlichen Klarheit“, entwickeln wir bei Mercedes ungeachtet dessen wie ein Operating System immer weiter, von Version 2.0 zu Version 3.0 und 4.0 – und prägen so über die Zeit den Stil des Hauses. Unser Anspruch ist, dass man dies mit Designern anderer Branchen vergleichen kann, die auch stilprägend waren, etwa mit Karl Lagerfeld.
Karl Lagerfeld hat einmal gesagt: Design kann nie demokratisch sein.
Hat er das echt gesagt? Das sage ich auch, und ich habe es das erste Mal gehört von einem früheren Chefdesigner des Volkswagen-Konzerns: „Wir sind demokratisch, bis zu einem gewissen Punkt.“ (lacht) Wenn zu viele mitreden, verwässert ein Entwurf. Ich brauche eine klare Meinung. Eine klare Vision.
Lagerfeld äußerte in seinen letzten Interviews, er habe ein Problem mit der Schnelllebigkeit unserer Zeit. Wie stellen Sie sich dieser Schnelllebigkeit entgegen?
Unser Design muss langlebig sein, gerade als Luxusmarke. Longlife Design ist ja eine deutsche Tugend. Wer Luxusprodukte kauft, gibt mehr Geld aus, sucht aber das Wertbeständige. Das spiegelt sich in Sensual Purity im Aspekt der Purity wieder. Wir greifen hierbei eine deutsche Tradition auf, die im Bauhaus begründet und später über die Ulmer Schule weitergeführt wurde. Die Reduktion auf das Wesentliche empfinde ich als etwas Großartiges. Dieser Ansatz ist tief verwurzelt in deutscher Design-Tradition, er erzeugt Tiefe und Langlebigkeit. Darauf basierte ja auch die „Form follows function“-Diskussion, die intellektuelle Begründung von Design.
Dass man nicht nur intuitiv eine Gestaltung wählt, sondern weiß, warum man es tut.
Aber der Grund dafür kann auch nur Schönheit sein, und hier ist „Sensuality“ entscheidend: die Sinnlichkeit, das Auslösen von Begehren, der Sex-Appeal. Ich bin ein „True Believer in Beauty“ - Schönheit. Durch die Kombination von Schönheit und Schlichtheit heben wir bei Mercedes-Benz Design auf ein komplett neues Level. In dieser Beziehung könnte man sagen: auf eine undeutsche Art und Weise.
Was genau meinen Sie damit?
Deutschland ist ja das Land der Dichter und Denker, der Intellektuellen. Bei uns braucht man stets einen Grund, warum Sachen so sind, wie sie sind. Das ist die rationale Seite von Gestaltung, die im Gehirn abläuft. Da fehlt aber die andere Seite, das Herz, die Emotion, die nicht zu kurz kommen darf. Für mich ist Schönheit oftmals der erste Antrieb, Schönheit im rein ästhetischen, zeitlosen Sinne. Schöne Formen sind per se weich und voll, spielen mit konvexen oder konkaven Formen, nutzen oft Materialien wie Holz. Und das setzt aber auf der deutschen Design-Philosophie auf. So entsteht etwas ganz Neues, Einzigartiges.
Gesellschaftliche Megatrends wie zum Beispiel Nachhaltigkeit werden im Netz massiv eingefordert, die Daimler AG hat dies zur Konzern-Policy erklärt. Inwiefern beeinflussen Trends Sie als Gestalter?
Wir inszenieren als Gestalter ja Trends. Trends sind allerdings per se erst mal nicht greifbar oder nicht anschaubar. Uns treiben im ersten Schritt daher Fragen um: Was ist denn die Inszenierung von Sustainability bei Mercedes-Benz? Ist es das Material – Ocean Waste Plastic, aus dem ich Sitzbezüge mache? Das Auto der Zukunft ist ein Supercomputer auf Rädern. Wie muss dieser Supercomputer aussehen? Eher so schön wie ein Classic Car? Oder eher techy? Die Antworten auf diese Fragen sind Teil unseres Luxusbegriffs für die Zukunft. Luxus beinhaltet seit jeher Seltenheit, erzeugt Begehren, gleichzeitig ist der Luxusbegriff im steten Wandel. Das Anspruchsvolle für uns Designer ist: Wir definieren den Luxus von morgen, indem wir heute entscheiden, was wir im Jahr 2025 der Öffentlichkeit vorstellen werden. Wir haben also eine Vorlaufzeit zwischen 5 und 10 Jahren. Das ist wie in der Architektur.
Auf welche Sehnsucht zielen Sie bei den Menschen?
Auf ihre Sehnsucht nach Schönheit und Verlangen. Das ist auch auf sozialen Kanälen wie Instagram festzustellen. Dort treffen Sie eher selten auf nicht ästhetische Bilder. Meist stellt sich jeder dank Photoshop so perfekt dar, wie er oder sie kann. Das ist eine perfekte Scheinwelt, perfekt gefiltert. Das Begehren nach Schönheit spiegelt sich – zum Beispiel – auch in der Zahl der Follower auf unseren Kanälen wider, auf denen es natürlich um luxuriöses Auto-Design geht.
In der Corona-Pandemie hat sich das Auto als geschützter Raum erwiesen. Verändert dies Ihre Sicht als Designer?
Das Auto als Kapsel, die mich vor der Außenwelt schützt: All das gab es auch schon früher. Dieses Konzept wird nur noch perfektioniert. Bereits im Jahr 2015 präsentierten wir den F015, der exakt in diese Richtung ging, als „rolling lounge“. Und heute ist die Vision gar nicht so weit von der Realität entfernt, dass das Auto neben dem Arbeitsplatz und dem eigenen Zuhause zum „third place“ werden wird – das Auto wird zur Life-Kapsel. Das UX im Inneren wird dabei zum bestimmenden Element einer Automarke, hier wird der Supercomputer für den Kunden erlebbar. Aber auch hier gelten die alten Gestaltungsprinzipien.
Zum Beispiel?
„Simplicity of use“ ist ein sehr wichtiger Aspekt: intuitive Bedienung. Jede Pixelzeile auf den Screens, die ich frei von Inhalten halten kann, ist eine gute Zeile. Wir gestalten alle Elemente sinnlich und klar, im Stil der Marke. Auch wenn wir hier und da bewusst extravagante Brüche einbauen.
Zur Person
Gorden Wagener leitet seit Mitte 2008 den weltweit tätigen Designbereich der Daimler AG. Für ihn ist Design markenprägend und ein ganzheitlicher Gestaltungsansatz essentiell, da sowohl die Produkte als auch die Marken der Daimler AG perfekt inszeniert werden müssen. Daher gestaltet sein international aufgestelltes Team sämtliche Marken und Produkte des Unternehmens – von den Automobilen bis hin zum holistischen Corporate Design aller Konzernmarken. Im Fokus seiner Arbeit steht die Hauptmarke Mercedes-Benz. Hierfür wurde unter seiner Leitung 2009 die neue Design-Philosophie der Sinnlichen Klarheit entworfen, welche einen modernen Luxus definiert. Sie verkörpert die beiden Ausprägungen „hot“ und „cool“ und bringt damit einen wesentlichen Aspekt der Marke Mercedes-Benz – die Bipolarität aus Emotion und Intelligenz – auf den Punkt.
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