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Ping! | 14. Apr. 2020

Oberlehrer, Blockwart, Prediger: Die Twitter-Typologie in Zeiten von Corona
(Serie „Marktplätze“, Teil 1)


von Jan Fleischhauer

Journalist und „Focus“-Kolumnist


© Jon Tyson/Unsplash

In wenigen Sätzen

In einer Zeit, in der an höchster Stelle Fakten ignoriert und allerorten Nachrichten manipuliert werden, gilt es publizistische Verantwortung neu zu denken. In unserer heute beginnenden Serie über die „Marktplätze in der Redaktionellen Gesellschaft“ beleuchten wir die Charakteristika einzelner Social-Media-Kanäle und digitaler Plattformen, wie beispielsweise LinkedIn, XING und YouTube. Sie soll aufzeigen, wie einerseits User einer neuen Art des Journalismus nachgehen und andererseits Plattformbetreiber zu Publishern mit gewaltiger Marktmacht geworden sind. Den Anfang macht Jan Fleischhauer mit einem Essay über die digitale Kampfarena Twitter. 

Ich bin neulich bei einer Fernsehaufzeichnung auf einen jungen Kollegen von der „Zeit“ gestoßen, der mir auf Twitter als besonders urteilssicher aufgefallen war. Wann immer jemand sich seinem Eindruck zufolge nicht ganz korrekt verhalten hat, ist er dort zur Stelle, um ihn in scharfen Worten zu maßregeln. Ich hatte also einen jungen Heißsporn erwartet, eine Art Mischung aus Rezo und Jutta Ditfurth. Stattdessen traf ich auf einen erstaunlich sanften Menschen, der im persönlichen Kontakt sehr zurückhaltend, um nicht zu sagen fast gehemmt war. In der Sendung blieb er dann auch eher blass, weil er fürs Fernsehen viel zu abwägend und nachdenklich auftrat. 
 
Was macht Twitter mit den Leuten? Das frage ich mich öfter. Es heißt, in der Kürze liege die Würze. So gesehen, sollte man die Beschränkung auf 280 Zeichen als Segen empfinden, weil sie Menschen dazu zwingt, klar und deutlich zu formulieren. Ich bin mir allerdings nicht mehr so sicher, ob der Zwang zur Kürze wirklich jedem guttut. Für manche Menschen ist es vielleicht ganz vorteilhaft, wenn sie nicht auf den Punkt kommen müssen. Der mäandernde Vortrag kann auch ein Schutz vor sich selbst sein. 
 
Ich habe mich 2010 bei Twitter angemeldet. Ich hatte gerade ein Buch veröffentlicht, das ich unter die Leute bringen wollte, da war mir jeder Aufmerksamkeitsgenerator recht. Ich bin dem Unternehmen seitdem treu geblieben. Ich mag die Geschwindigkeit, die Lautstärke, auch den Wahnsinn, der regelmäßig durch den Kanal fegt. Man kann es als schrille Ausgabe der „Menschlichen Komödie“ sehen, wenn man will, dem Balzacschen Panorama der menschlichen Leidenschaften, nur eben auf 280 Anschlägen. Ich bin immer wieder überrascht, wenn ich sehe, wie Leute auf Twitter die Nerven verlieren. Oder sich in wüsten Streitereien verzetteln.
 
Es heißt jetzt, die Corona-Krise ändere alles. Es wird der Epochenwechsel ausgerufen und das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Beim Blick auf Twitter kann ich nur sagen: Die menschliche Natur zumindest ist erstaunlich stabil. Das überwölbende Thema mag sich geändert haben (obwohl nicht einmal das in jedem Fall gilt) – der Twitter-Charakter bleibt sich verblüffend treu. Ich kann nicht erkennen, dass Menschen aufeinander zugehen, die sich eben noch in herzlicher Feindschaft verbunden waren, Krise hin oder her.

Eitelkeit, Rechthaberei, Narzissmus treten ungeschminkt hervor

Es ist wie in einem Dorf. Es gibt den Prediger, der versucht, die Gemeinde von der Heiligkeit seines Anliegens zu überzeugen. Es gibt den Oberlehrer, der seine Tage damit verbringt, das Fehlverhalten anderer zu geißeln. Den Bully, der die Meute aufheizt und aufhetzt und erst Ruhe gibt, wenn das Objekt seiner Wut den Account stilllegt und alle Aktivitäten quittiert. Natürlich haben wir auch den Twitter-Weisen, der zur Mäßigung aufruft, und den trockenen Twitter-Nutzer, der sich indigniert abwendet und gelobt, für immer das Twittern einzustellen, nur um dann beim ersten Erregungssturm wieder rückfällig zu werden.
 
Alles tritt klar und ungeschminkt hervor: die Eitelkeit, die Rechthaberei, der Narzissmus. Jemand schreibt etwas Nettes, und das erste, was derjenige, der gelobt wurde, tut, ist alle daran Teil haben zu lassen, wie großartig ihn jemand anders gefunden hat. Noch erstaunlicher ist allenfalls das maßlose Cheflob: Der Chefredakteur hat einen Text geschrieben, auf den er erkennbar stolz ist, und die Korrespondentin im Außenbüro twittert ergriffen, dass sie selten etwas so Weitsichtiges und Kluges gelesen habe, ja, sie habe bei der Lektüre beinahe weinen müssen, worauf der Chefredakteur dieses als „gefällt“ markiert und seinerseits retweetet. Früher hätte das als Gipfel der Peinlichkeit gegolten, heute geht das als normaler Twitter-Beitrag durch. 
 
Eine der interessanten Gestalten der Twitter-Welt ist der Blockwart, der jeden sperrt, mit dessen Meinung er nicht einverstanden ist. Ich habe den Sinn des Blockens nie ganz verstanden. Ist man nicht gerade deshalb auf Twitter dabei, weil man sehen will, was andere so von sich geben? Oder weil man hier Menschen erreicht, die man im normalen Leben nie kennenlernen würde. Sicher, es gibt furchtbare Nervensägen, die einem die Timeline vollspammen. Aber dafür hat das System eine praktische Lösung. Ich stelle solche Leute einfach auf „Mute“, wie das bei Twitter heißt: Sie können einem weiter folgen, aber alle Antworten oder Beschimpfungen bleiben in einem großen Twitter-Filter hängen.
 
Jedem wird heute empfohlen, die sozialen Medien zu nutzen. Das „Handelsblatt“ hatte vor ein paar Monaten eine Geschichte über das Twitter-Verhalten der Vorstandsvorsitzenden der Dax-Konzerne. Überschrift: „Die verpasste Chance“. Wie nicht anders zu erwarten, forderte der Redakteur die Großunternehmen und ihre CEOs auf, endlich mehr die sozialen Medien zu nutzen. Wer nicht irgendwie digital ist, der gilt als veraltet und damit im Grunde als unfähig, ein modernes Unternehmen zu führen.

Ein Satz kann Existenzen vernichten

Ich bin da dezidiert anderer Meinung. Wenn Sie im Kreis Ihrer Freunde Erinnerungen oder Kommentare teilen: alles gut. Aber sobald Sie diesen geschützten Bereich verlassen: Obacht! Ich garantiere Ihnen, die fünfhundert Beiträge, die Sie im Netz hinterlassen, weil Sie denken, sie wären lustig oder spannend, wird nie jemand außerhalb Ihres Freundeskreises zur Kenntnis nehmen. Aber der eine Satz, den Sie unvorsichtigerweise abgesetzt haben, weil Sie dachten, der wäre auch lustig, und von dem Sie sich anschließend wünschen, Sie hätten ihn nie abgesetzt, der wird für immer in Erinnerung bleiben. 
 
Ein einziger dummer Scherz kann reichen, um die berufliche Existenz zu gefährden oder sogar zu vernichten. Das berühmteste Beispiel, wie man mit 64 Zeichen sein Leben ruiniert, ist vermutlich Justine Sacco, eine kleine, unbekannte Angestellte des amerikanischen Medienkonzerns IAC, die auf dem Abflug nach Südafrika in ihr Handy schrieb: „Going to Africa. Hope I don’t get Aids. Just kidding. I am white.” Ein Satz, wie gesagt, von dem das arme Mädchen dachte, er sei lustig. Als sie neun Stunden später aus der Maschine in Johannesburg stieg, hatten 1,7 Millionen Menschen ihren Tweet gelesen. Ihr Arbeitgeber hatte ihr zwischenzeitlich die Kündigung ausgesprochen, am Ankunftsterminal warteten Trauben von Fotografen und Journalisten. 
 
Ich bin im Meinungsgeschäft. Für mich sind die Kapillaren des Internets Distributionskanäle, über die ich zusätzlich zu meiner Arbeit beim „Focus“ Menschen erreiche, die ich über den „Focus" nicht erreichen würde. Das macht Twitter für mich so interessant. Um nicht abstürzen, habe ich zwei Regeln, an die ich mich zu halten versuche. Die eine Regel lautet: Keine Ausfälligkeiten und Beschimpfungen! Und die zweite Regel ist: Don’t drink and twitter! Nichts ist im Zweifel toxischer als die Kombination von Alkohol und Internet, glauben Sie mir. 

Zur Person

Jan Fleischhauer ist Journalist und Buchautor. Er studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Hamburg. Nach 30 Jahren beim SPIEGEL wechselte er im Sommer 2019 zum „Focus“. Seine Kolumnen gehören zu den meistgelesenen und -diskutierten Meinungsseiten in Deutschland.

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