• DE
  • |
  • EN
  • SHOP 
Looping Group
  • Projekte
  • Ping!
  • Über Uns
  • Jobs
  • Kontakt
Nr. 16
Ping! Der Looping Newsletter

Für mehr Sinn und Verstand in der Redaktionellen Gesellschaft


Der Newsletter der Looping Group


Ping! | 30. Apr. 2020

Op-ed Identität


von Georg Dietz

Journalist und Autor

von Emanuel Heisenberg

Gründer von ecoworks


©  Tom Barrett/Unsplash

In wenigen Sätzen

In der digitalen Welt entsteht Identität aus den Spuren, die wir absichtlich oder unabsichtlich dort hinterlassen, und wird zu einem ständigen Spiegelkabinett. Das fordert die Redaktionelle Gesellschaft. Wir müssen uns bewusster werden, welche Herausforderungen und Chancen das digitale Zeitalter birgt. Wir müssen unsere persönliche wie auch die politische Identität digital schützen und wir brauchen auch im unendlichen World Wide Web ein Recht auf Vergessen, fordern Georg Diez und Emanuel Heisenberg. Lesen Sie hier exklusiv einen angepassten Auszug aus ihrem neuen Buch Power To The People darüber, wie wir mit Technologie die Demokratie neu erfinden.

I. Die Sicherung der Freiheit

Ein Ergebnis der Moderne ist die doppelte Identität des Menschen, als Individuum und als Bürger*in, konkret und abstrakt, privat und politisch. Diese Trennung ist für die Sicherung bestimmter Freiheitsrechte essenziell, die der Staat durch die Macht seiner Institutionen garantiert, Pass und Namensrechte etwa, verbunden mit bürgerlichen Pflichten wie Steuern. Wenn nun diese Trennung in der digitalen Revolution kollabiert, steht die Demokratie vor der Herausforderung, die Freiheitsrechte neu und anders zu sichern.

Für die Redaktionelle Gesellschaft bedeutet das, dass sich Autorenschaft auf verschiedenen Ebenen anders definiert, individuell und institutionell. Darin liegt sowohl die Möglichkeit von Freiheit als auch die Gefahr der Einschränkung von Freiheit. Es ist ein Bruch in der biographischen wie kommunikativen Logik des Alten, der sich abzeichnet, und die Redaktionelle Gesellschaft gibt diesem disruptiven Wandel eine Form. Die Fliehkräfte unserer Zeit sind auch hier am Wirken und es ist wichtig, diese Kräfte zu verstehen, um ihnen kreativ, kritisch und konstruktiv begegnen zu können.

II. Die Autonomie des Menschen

Die technologische Logik schafft eine eigene politische Praxis und wenn die Funktionsweisen des einen nicht mehr der Gestalt des anderen entsprechen, führt das irgendwann zu einem Riss im Gefüge der Zeit – aus technologischen werden politische Revolutionen. Das war zum Beginn des Maschinenzeitalters der Fall, als die Umsturz- und Freiheitsbewegungen in Amerika und Frankreich der Neuzeit ihr demokratisches Gesicht gaben, ihre parlamentarische Form und ihre rechtliche Logik; und das könnte jetzt, am Beginn des Informationszeitalters, wieder der Fall sein, wenn die Widersprüche zu groß werden und die Institutionen und Akteure nicht in der Lage sind, die notwendigen und tiefgreifenden Veränderungen in den grundlegenden gesellschaftlichen und vor allem politischen Fragen vorzunehmen, um die Zurückgelassenen aufzufangen. Außerparlamentarische, zivilgesellschaftliche Gruppen könnten die Demokratie der Zukunft entwickeln.

Tatsache ist: Das Zeitalter des materiellen Wachstums auf Kosten der Natur, gestützt durch produzierende, dem Menschen dienende Maschinen, ist an ein Ende geraten. Welches System wird auf den Materialismus des 20. Jahrhunderts und seine parlamentarische Repräsentation folgen? Für den Menschen stellt sich darüber hinaus die Frage, wie er mit Maschinen umgehen will, die eigene Autonomie beanspruchen.

Diese Entwicklungen konfrontieren den Menschen auf fundamentale Weise mit sich und mit seinem Selbstbild. Die Bandbreite an Reaktionen auf diesen Umsturz ist groß: Angst, Ablehnung, Anpassung, Auflehnung oder Rückbesinnung auf die Vernunft der Aufklärung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellte und die Welt nach seinen Maßstäben konzipierte. Der Mensch könnte bald seine Sonderstellung als intelligentestes und anpassungsfähigstes Wesen auf der Erde verlieren, wenn sich die künstliche Intelligenz der Roboter weiterhin so rasant entwickelt, wenn Maschinen eigene Autonomie beanspruchen und das Selbstbild des Menschen auf fundamentale Weise gefährden.

Die Vernunft ist damit nicht an ein Ende gekommen – aber doch in eine elementare Krise geraten, die sich mindestens aus der Tatsache der menschengemachten Klimakrise ergibt: Wenn sich die Welt so darstellt, dass sie für den Menschen gemacht ist, zu seiner Ausbeutung, dann ist das Ergebnis dieses Denkens zunehmend katastrophal. Die Erde, die sich der Mensch mit biblischem und neuzeitlich-kapitalistischem Auftrag untertan gemacht hat, rebelliert auf ihre Weise. Die institutionellen und gedanklichen Grundlagen des Maschinenzeitalters stehen damit in Frage: die Epoche von Stahl und Kohle, die so konstruktiv war, bis sie zerstörerisch wurde.

Die parlamentarische Demokratie hat ihre Form gefunden im Kontext dieser industriellen und technologischen Entwicklungen, Entscheidungen, Zwänge, und sie gehorcht in vielem noch immer einer Produktionsweise, die vor 300 Jahren begonnen hat. In der Moderne hatte das, was in den Fabriken und in der industriellen Massenproduktion stattfand, eine Entsprechung in der Bürokratie und der Konstruktion des Subjekts. Automatisierung und Standardisierung waren die Grundlagen der erfolgreichen Fabrikproduktion; Abstraktion und Objektivierung waren die Grundlagen für die Identität als Bürger*in – ein Prozess der Vereinheitlichung und Verlässlichkeit, weil es eine zentrale Institution gab, die die Existenz eines spezifischen Menschen anerkannte und dabei auch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Menschen absicherte und garantierte.

Noch heute speist sich die Identität von Bürger*innen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft aus zwei unterschiedlichen Richtungen, aus der Rolle als Wähler*innen und aus der Arbeit, die dieser Identität eine materielle und essenziell sinnstiftende Grundlage gibt. Wenn nun aber diese Arbeit zunehmend durch Maschinen, Roboter, Algorithmen und künstliche Intelligenz übernommen wird, dann schafft das extreme Unsicherheit und Ängste, die sich auf das demokratische System selbst auswirken. Die Antworten darauf müssen im digitalen Zeitalter andere sein als im analogen. 

III. Weiterbildung für mehr Produktivität

Wie können wir als Gesellschaft auf diese Veränderung reagieren? In der technologischen Beschleunigung des Informationszeitalters geht es um eine permanente Lern- und Veränderungskultur in Unternehmen und Verwaltungen, besonders für Menschen, deren Arbeit durch Automatisierung bedroht ist. Nicht chronische Unsicherheit und Bedrohung sollten das Arbeitsleben prägen, nicht ein Ultradarwinismus, wo in einem riesigen Pool aus temporären Arbeitskräften gefischt wird, sondern eine Kultur der Weiterbildung von Menschen, die Technologie nutzen, um ihre eigenen Talente zu ergänzen und ihre Produktivität zu steigern.

Der technologische Wandel betrifft die gesamte Gesellschaft und erfordert ein radikales Umdenken in der Qualifizierung und Weiterbildung von Menschen mit wenig technologischer Expertise. Die gute Nachricht: Arbeitnehmer*innen müssen bald keine monotonen Abläufe mehr an Fließband oder Rechner ausführen. Die Herausforderung: Sie werden zunehmend flexibel eingesetzt, arbeiten von zu Hause oder von unterwegs, sie agieren selbstverantwortlich, selbstgeleitet und sich selbst motivierend oder werden durch Plattformen organisiert, sie sind freiberuflich tätig, kurzfristig angestellt, arbeiten für verschiedene Arbeitgeber*innen, ergänzt und unterstützt durch Software und Bots. Mit anderen Worten: Durch die Automatisierung entsteht ein Produktivitätsgewinn, aber wir haben noch nicht das Werkzeug, die Mittel und das Wissen, um ihn verantwortungsvoll und produktiv zu gestalten.

Klar ist: Bildung und Weiterbildung von Erwachsenen müssen ins Zentrum allen politischen Handelns gerückt werden, um diesen Produktivitätsgewinn zu erreichen. Es müssen neue staatliche oder privatwirtschaftliche Formen und Formate entstehen, die ein lebenslanges Lernen durch Institutionen begleiten und sich der neuen digitalen Realität öffnen. Deutschland aber belegt in den öffentlichen Ausgaben sowohl für Schulbildung als auch für Universitäten im EU-weiten Vergleich einen hinteren Platz gemessen am Bruttoinlandsprodukt. Und auch die Berufsausbildungen sind zu statisch. So benötigt die Industrie- und Handelskammer sieben Jahre, um einen neuen Ausbildungszweig einzuführen. Das alles sollte im Geist der digitalen Experimentierkultur viel schneller, viel offener, viel partizipativer erfolgen, die Abläufe und Lerninhalte sollten mit technologischen Mitteln individualisiert werden, die Ausbildungsziele selbst sollten grundlegende menschliche Fähigkeiten und Werte fördern. 

IV. Der internationale Vergleich

Technologen wie Mark Zuckerberg experimentieren in den USA schon längst mit einem Schulsystem, in dem die Kinder ihr eigenes Curriculum zusammenstellen und die Geschwindigkeit der Wissensvermittlung selber bestimmen können. Und in China ist das technologiegestützte Lernen noch einige Schritte weiter. Die börsennotierte TAL Education Group vermittelt Millionen von Kindern Naturwissenschaften, Englisch und andere Fächer auf Basis von KI-Technologie. Die jüngsten Kinder sind gerade einmal zwei Jahre alt. In technologisch hochgerüsteten Klassenzimmern mit Sensoren und Kameras zur Bilderkennung werden die Schüler*innen permanent gefilmt und analysiert, um herauszufinden, wie aufmerksam sie sind, ob sie sich noch auf den Stoff konzentrieren, wie ihre Körperhaltung ist. Durch Spracherkennungs-Software wird die Aussprache im Englischunterricht begleitet, auch der jeweilige Wortschatz wird laufend analysiert und korrigiert. Es geht darum, individuell an den Schwächen zu arbeiten und daraus Nutzen zu ziehen.

Beide Beispiele zeigen, wie ambivalent Technologie sein kann. Die Privatisierung der Schule stellt eine Grundlage der bisherigen Demokratie in Frage, die darauf beruhte, dass Gleichheit und Gerechtigkeit durch eine verbindliche und gemeinsame Erziehung gewährleistet sind, dass Aufstieg und individuelle Teilhabe durch den Staat und die staatlichen Bildungseinrichtungen gefördert werden. Modelle wie das von Facebook würden diese Logik verändern und womöglich die Ungleichheit in der Gesellschaft noch verschärfen. Bildung wäre noch mehr als bisher an Einkommen geknüpft; und das Versprechen der Meritokratie, also des gesellschaftlichen Aufstiegs durch Bildung, würde noch brüchiger. 

V. Kuratorisches Ideal wird Identität

Was die stärkere Individualisierung von Bildung betrifft, gibt es gute Argumente für die Nutzung neuester Technologie. Es kann extreme Vorteile haben, wenn Schüler*innen ihren Unterricht nicht pauschal nach einem Maßstab erhalten, sondern auf individuelle Stärken und Schwächen viel besser und genauer eingegangen werden kann. Das ist die Chance der Technologie in diesem Bereich, verbunden mit einem anderen Verständnis der Rolle von Lehrer*innen, die mehr zum Coach, Mediator, Partner werden und vor allem die sozialen Kompetenzen im Auge haben. Das Ergebnis wäre eine vollkommen andere Form von Schule. Doch weder Parteien noch Stiftungen oder NGOs arbeiten in Deutschland in dieser Zeit des technologischen Umbruchs mit signifikanten Mitteln daran, Technologie sinnvoll für schulische und universitäre Bildung zu nutzen.

Dabei leben wir längst in einer Wissens-Ökonomie. »Knowledge Economy« nennt Roberto Mangabeira Unger die Gesellschaft der Informationen, in der sich Bildung verändert und Wissen in Konkurrenz zu Daten gerät, die die Grundlage neuer Arten von Wirtschaft, Medien und Politik bilden. Diese Daten sind auch die Basis für eine andere Art von Identität, zunächst im privaten Sinne: Identität wird fluide, fragmentarisch, fragil. Identität setzt sich neu zusammen, weil sie erst einmal auseinanderfällt. Identität wird spekulativ, flexibel, situativ. Identität passt sich den Gegebenheiten und den Launen an, entkoppelt von einer zentralen Kontrolle oder einer zeitlichen Kontinuität. Identität wird dabei auch verletzlich und angreifbar, sie wird manipulierbar, missbräuchlich, dem Menschen entzogen. Identität wird einerseits zum Spielzeug des Einzelnen, der zum Beispiel seine Online-Persona selbst definieren kann. Identität wird andererseits zum Spielball von Konzernen, die durch Algorithmen, Werbung und plattformübergreifendes Tracking einen mächtigen Apparat geschaffen haben, um den Einzelnen so zu formen, wie sie es wollen.

In der digitalen Welt sind es mehr und mehr die Spuren im Netz, die Identität schaffen, es sind die Likes, die Links, auf die man klickt, es sind die Waren, die man bestellt, es sind die Fotos, die man von sich zeigt; das ist das kuratorische Ideal der Redaktionellen Gesellschaft, also die individuelle Möglichkeit, sich anderen so zu zeigen, wie man es selbst will, und daraus seine Persönlichkeit zu formen, seine Geschichte, seine Biographie, seine Identität. Es sind die Anwesenheit und die Interaktionen mit anderen auf Facebook, Instagram, WhatsApp oder Twitter, durch die täglich, stündlich, im Sekundentakt Informationen entstehen, die gesammelt und verarbeitet werden, von den Konzernen zu Werbezwecken, von den Regierungen zur Überwachung. Und genau an diesem Punkt stellt sich die Machtfrage: Was macht den Menschen zum Menschen? 

VI. Der Schutz der Identität im Digitalen

Wenn es die Informationen sind, die wir selbst produzieren oder die andere über uns speichern, dann ist die Frage der Identität eine von Freiheit, Kontrolle und Macht auf Grundlage der Herrschaft über die Daten und Informationen. Diese dürfen eben nicht den Konzernen überlassen werden, die die Daten vor allem nach Profitkriterien verwerten, ohne Mitsprache des Einzelnen und damit ohne demokratische Teilhabe. Hier also, im Entstehungsprozess individueller Realität, muss hinterfragt werden, wie sich sowohl individuelle als auch politische Identität mit digitalen Mitteln schützen lassen.

Die Tech-Konzerne haben sich im vergangenen Jahrzehnt dabei übertroffen, unsere Lebens- und Konsumgewohnheiten zu speichern und daraus Produkte zu entwickeln – allen voran der US-Konzern Google, der täglich 5,6 Milliarden Suchanfragen aufzeichnet. Somit wachsen die Datenmengen immer schneller und schneller. 2020 sollen 40 Zettabytes an Daten im Umlauf sein, das entspricht einer Menge von drei Millionen Büchern für jeden Menschen auf der Erde. Besonders attraktiv für die Tech-Konzerne sind dabei Daten, die direkt mit Kaufentscheidungen zu tun haben.

Die größte Auswirkung auf die Veränderung der Wirklichkeit und das Einwirken der Maschine auf die Identität des Menschen erfolgt durch die Ausbreitung von Systemen und Dienstleistungen, die auf künstlicher Intelligenz basieren. Maschinelles Lernen oder »machine learning« ist die Automatisierung der Automatisierung und wird so die künstliche Intelligenz von ihren Begrenzungen befreien, vor allem von der Begrenzung ihrer menschlichen Erschaffer.

Die Ziele, für die Google Daten bereitstellt, mögen dabei in einem Rechtsstaat als sinnvoll erscheinen – aber wer kontrolliert die Grenzen der Überwachung? Wer überwacht die Überwacher? Wer stellt sicher, dass ihre Methoden und Mittel nicht selbst die Demokratie gefährden? Wer verhindert, dass die Mittel nicht gegen die Bürger*innen eingesetzt werden? Wie also entsteht politische Identität in einer offenen Gesellschaft mit möglichst offener Technologie? 

VII. Das Recht auf Vergessen

Umgekehrt gilt aber auch, dass sich die private Identität der Menschen in der digitalen Gesellschaft deutlich anders zusammensetzt – und die sozialen Medien spielen dabei eine besondere Rolle, vor allem für die Generation der »Digital Natives« oder »Millennials«. Die Generationen, die eine Welt ohne Internet nie kennengelernt haben, unterscheiden können zwischen digital und nichtdigital; real und virtuell sind für sie keine sinnvollen Kategorien, denn die Realität des Virtuellen ist für sie seit ihrer Jugend präsent.

Im privaten biographischen Bereich bedeutet das, dass besonders die sozialen Medien wie ein ständiges Spiegelkabinett wirken. Sie dienen häufig nicht nur der Kommunikation – dem Austausch von Meinungen –, sondern auch der Projektion eines Bildes von sich selbst. Die amerikanische Medienwissenschaftlerin Kate Eichhorn hat das in ihrem Buch »The End of Forgetting. Growing Up with Social Media« beschrieben: Die Nutzer*innen von Snapchat luden laut Angaben des Unternehmens 146 Millionen Fotos und Videos hoch, pro Stunde. Und britische Eltern stellten im Durchschnitt 200 Bilder ihrer Kinder online, pro Jahr. Diese Bilderflut hat verschiedene Konsequenzen, die man psychologisch oder künstlerisch und kulturell beleuchten kann.

Dabei sind vor allem zwei Aspekte interessant: Was bedeutet es für die Identität, sich selbst andauernd zu präsentieren, weil die selbstreferenziellen Hallräume so verlockend sind? Und was bedeutet es, mit einem Selbst aufzuwachsen und zu altern, während die im Internet allzeit verfügbaren Bilder auf eine Person verweisen, die es möglicherweise gar nicht mehr gibt? Gibt es also ein »Ende des Vergessens«, verbunden mit einer möglichen Einschränkung entweder der individuellen oder der gemeinschaftlichen Freiheit? Oder gibt es vielmehr ein »Recht auf Vergessen«? Darin könnte ein Grund für den Erfolg von Snapchat liegen, einer Kommunikations-App, in der Bilder zehn Sekunden nach dem Empfangen gelöscht werden.

Eichhorn schildert sowohl die emanzipatorischen als auch die einschränkenden Folgen von Posting und Sharing der digitalen Bildergalerie des Ichs: So seien Kinder in der Lage, ihr Bild von sich selbst zu erschaffen, sie seien nicht mehr angewiesen auf die Bildermacht der Erwachsenen, deren Blick, deren Autorität, deren Technologie, die Kamera des Vaters oder der Mutter. Kindern stehen nun selbst die Kanäle und die Technologie zur Verfügung, um Bilder zu machen und sie so zu verbreiten, wie sie es wollen. Sie sind dabei geübter als die heutigen Erwachsenen, allerdings zeigen sie auch Varianten von sich selbst im Netz, die sie womöglich im Verlauf ihrer Kindheit und Jugend revidieren wollen werden, was ihnen nicht möglich sein wird. Eichhorn spricht in diesem Zusammenhang von einer »ewigen Kindheit«, die einen einholt, auch wenn man ein ganz anderer geworden ist.

Das Recht auf Vergessen, also die Chance, die Identität autonom, im Wandel und nach vorne gerichtet zu definieren, steht dabei in manchen Fällen auch in Konkurrenz zu den Interessen und Arbeitsweisen der Medien. In der Theorie der liberalen Demokratie sind Medien ein wichtiger Faktor, um eine kritische Öffentlichkeit zu schaffen, die die Politik kontrolliert. Das ändert sich momentan, nicht nur, weil die Medien ökonomische Schwierigkeiten haben, was wiederum mit den technologischen Verschiebungen zu tun hat. Google und Facebook gefährden die Geschäftsgrundlage vieler Print- und Onlinemedien, weil sie weitgehend das Anzeigengeschäft übernommen haben. 

VIII. Die digitale Demokratie

Die etablierten Medien sind aber auch in eine Legitimationskrise geraten, die mit dem Wesen ihrer Arbeit selbst zu tun hat: Vertrauen, Aufklärung, Wahrheit. Sie stehen vor der Herausforderung, den Verlust an Einfluss und Autorität in eine Stärke zu verwandeln. Eine fragmentierte Öffentlichkeit, in der jede*r zum Sender werden kann, stellt andere Anforderungen an die demokratische Praxis – die Habermas’sche Hoffnung auf eine rationale Öffentlichkeit als Basis einer kommunikativen Demokratie wird damit herausgefordert. Die »Torwächter« der etablierten Medien büßen nicht nur ihre Funktion als Vermittler, sondern auch die als Stabilisatoren, als Kontrolleure des demokratischen Prozesses ein.

Das muss keine schlechte Nachricht sein. Ein publizistischer Variantenreichtum bringt andere Stimmen in den Diskurs, eröffnet andere Perspektiven, von außen, von unten, auf sich selbst und die Gesellschaft. Die Frage nach den Grundlagen medialer Autorität ist bedeutsam, sie ist konstruktiv für eine lebendige demokratische Gesellschaft, die sich mit der Zeit verändern sollte – die Verweigerung, der Vielfalt ihren Platz zu geben, ist dabei das eigentliche Problem eines sich neu formierenden und zunächst notwendigerweise unübersichtlichen demokratischen Diskurses.

Viele Medien agieren dabei wie andere Institutionen, die aus der Logik des Alten geboren sind und deshalb in dieser Logik verharren, als könnte sie bewahrt werden – Gerichte etwa und Parlamente, die oft vergeblich auf die neuen Verhältnisse zu reagieren versuchen. Sie werden zu Wächtern des Alten, des Status quo, dem sie wiederum ihren Rang und ihre Legitimation verdanken. Die Veränderung dieser Institutionen ist ein wichtiger Schritt hin zur digitalen Demokratie.

Im neuen technologischen Zeitalter geht es zunächst darum, ein Bewusstsein dafür zu wecken, was die Bedrohungen und Zwänge sind. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Antworten darauf am ehesten aus der Logik der digitalen Systeme selbst kommen werden und nicht aus einer Distanz oder Rückkehr zu einer anderen technologischen Offline-Welt. Rückwärts ist immer das Gegenteil des Progressiven, deshalb ist die Veränderung der Verhältnisse mit den technologischen Gegebenheiten der Weg für eine andere, emanzipatorische Politik. 

Zur Person

Georg Diez war lange Jahre Autor und Kolumnist für Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Die Zeit und zuletzt den Spiegel. Heute arbeitet er als Direktor für Strategie und Medien bei einem unabhängigen Forschungsinstitut.

Emanuel Heisenberg ist Gründer von ecoworks, einem Technologie-Start-up, das CO2-neutrale industrielle Sanierung anbietet. Er berät Ministerien, Parteien und NGOs zum Klimawandel und zur Energietransformation. Er studierte in München und Cambridge Geschichte und Volkswirtschaft.

Der Newsletter der Looping Group


Teilen Sie Ping!


Wurde Ihnen Ping! weitergeleitet?

Jetzt anmelden

Haben Sie Ping! verpasst?

Zum Blog

Folgen Sie uns auf Social Media


© 2020 LOOPING GROUP
  • Datenschutz
  • Impressum