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Jeff Jarvis: „Wer jetzt Erfolg haben will, muss sein Kapital oder seinen Ruf riskieren“
Junior Editor LOOPING GROUP
In wenigen Sätzen
Jeff Jarvis gilt spätestens seit seinem Buch „What would Google do?“ aus dem Jahr 2009 zu den Vordenkern des Digitalen Wandels – und der kommunikativen Bedingungen in der Redaktionellen Gesellschaft. Der Bestsellerautor und Journalistik-Professor der City University of New York kritisiert im Ping!-Interview den Technologiepessimismus der Deutschen und erklärt, warum er in der COVID-19-Krise dafür plädiert, dass alle Nutzer mehr Daten teilen.The interview was edited for better readability. Listen to the unabridged interview in the Ping! podcast!
Ping!: Jeff, Du kritisierst die Deutschen seit mehr als zehn Jahren regelmäßig für ihre Zaghaftigkeit. Vor allem dafür, dass sie sich so wenig an der Redaktionellen Gesellschaft beteiligen. Hast Du inzwischen eine Erklärung dafür gefunden?
JEFF JARVIS: Nein, ich verstehe es immer noch nicht. Diese Zurückhaltung wird ja oft mit der deutschen Geschichte begründet. Aber das kann nicht der Grund sein. Meine Schwieger-Großeltern kamen 1923 aus Deutschland und sie lebten schon damals sehr zurückgezogen. Die Erklärung muss also tiefer in der deutschen Kultur verwurzelt sein. Ich glaube, die Deutschen leiden an einer Art „Technopanic“. Sie haben Angst, verletzt zu werden. Warum das so ist, diese Frage fasziniert mich seit Jahren.
Vielleicht kommen wir in diesem Gespräch der Antwort gemeinsam auf die Spur. Fangen wir mit einem kleineren Beispiel an: Du bist sehr aktiv auf Twitter – dem in Deutschland unter den großen Plattformen am wenigsten genutzten Medium. Warum ist Twitter in Deutschland immer nur ein Journalisten-Medium geblieben?
In den USA wird Twitter vor allem aus einem Grund geschätzt: Twitter hat zuvor unterdrückten Stimmen eine Plattform gegeben, zum Beispiel mit „Black Twitter“ oder #MeToo. Die Massenmedien werden von Menschen kontrolliert, die wie ich aussehen: von alten weißen Männern. In Deutschland werden Medieninstitutionen immer noch mehr respektiert als in den USA. Die ZEIT, die Süddeutsche, die FAZ, der Spiegel – es existiert eine Vielzahl an Stimmen und Perspektiven.
Unter Journalisten gibt es eine eiserne Regel: Je kürzer die Nachricht ist, desto länger sollte man zuvor über deren Inhalt nachgedacht haben. Gilt das auch für Twitter?
Twitter ist nicht die New York Times. Twitter ist der Times Square. Es ist ein Gesprächsmedium. Hier wird nicht bearbeitet und kontrolliert und aufgeräumt. Passieren dadurch mehr Fehler? Klar! Ich selbst habe weiß Gott vieles getwittert, das ich später bereut habe – besonders nach zu viel Cabernet.
Welchen Tweet hast Du am stärksten bereut?
Ich erinnere mich nicht an einen speziellen Tweet. Aber es gibt immer zwei offensichtliche Gründe: Einer ist, wenn ich mich irre. Der zweite: Wenn ich gemein werde.
Was tust Du dann?
Ich entschuldige mich meistens. Das bedeutet übrigens nicht, dass wir Beleidigungen online verbieten sollten. Wir müssen ehrliche Gespräche führen können.
In Deutschland gibt es eine Abneigung gegen das Risiko. Aber wer in dieser Zeit großer Veränderungen Erfolg haben will, muss sein Kapital oder seinen Ruf riskieren.
Du schreibst in Deinem Buch „Public Parts“, Twitter halte Dich davon ab, „Bullshit zu schreiben“, weil die Öffentlichkeit Dich kontrolliert. Hast Du Dich schon einmal selbst zensiert?
Ich glaube, wir alle zensieren uns jedes Mal, wenn wir den Mund aufmachen. Zum Beispiel, wenn wir in einem Meeting sitzen und jemand gerade etwas unglaublich Dummes gesagt hat. Dann sagen wir ihm meistens nicht: „Du bist ein Idiot!“ Twitter folgt dem wirklichen Leben. Wir halten uns selbst davon ab, zu weit zu gehen. Das ist Reife und Höflichkeit.
Reife und Höflichkeit? Online ist es doch wahrscheinlicher, dass mich jemand als Idioten beschimpft.
Sicher, manche Leute verhalten sich so. Aber mein Twitter- und Facebook-Feed sind voll von Menschen, die ich respektiere und von denen ich jeden Tag lerne. Es geht hier nicht um die Technologie. Es geht darum, wie wir miteinander umgehen. Wir sind gerade dabei, unsere Normen neu zu verhandeln. Was wir derzeit an technologischem Wandel durchmachen, ähnelt dem Umbruch, der nach Gutenberg kam. Es dauerte 50 Jahre, bis das Buch seine heutige Form annahm. Weitere 100 Jahre, bis seine Auswirkungen auf die Gesellschaft spürbar wurden. 150 Jahre, bis jemand die Zeitung erfand. Heute sind wir etwas mehr nur als 25 Jahre von der Einführung des kommerziellen Webs im Oktober 1994 entfernt. In Gutenberg-Jahren ist jetzt 1475 – Martin Luther ist noch nicht geboren. Es ist ein großer Fehler zu glauben, wir könnten das Internet definieren, reparieren und regulieren. Diese Tendenzen bereiten mir Angst.
Deutschland scheint bei diesem Lernprozess im Rückstand zu sein. Du nennst das „Technopanic“. Wovor genau haben die Deutschen Angst?
Ich würde sagen – und das ist eine sehr amerikanische These – es ist die Angst davor, öffentlich als Versager dazustehen. Öffentlich etwas auszuprobieren, öffentlich Erfolg zu haben und öffentlich zu scheitern – all das heißt, großzügig zu sein. Wenn wir offen sind, erlauben wir anderen, aus unseren Bemühungen und Fehlern zu lernen. Weil wir in Amerika so verdammt egoistische Exhibitionisten und Angeber sind, ist das für uns ganz natürlich. Dieser Einstellung haben wir das Silicon Valley zu verdanken. So sind unsere Innovationen und Start-ups entstanden, während das in der deutschen Kultur kaum der Fall ist. In Deutschland gibt es eine Abneigung gegen das Risiko. Aber wer in dieser Zeit großer Veränderungen Erfolg haben will, muss sein Kapital oder seinen Ruf riskieren.
Die Deutschen haben also Angst davor, gegenüber Fremden verwundbar zu sein?
Ich will nicht zu sehr verallgemeinern. Diese Hemmungen kommen nicht nur aus der deutschen Seele: Eine Ursache ist das regulative Umfeld, in dem jeder Fehltritt bestraft wird. Die Tendenz zur Privatsphäre kommt von der deutschen Regierung. Und, um es klar zu sagen: Sie kommt auch von bedrohten Medienunternehmen, die versuchen, protektionistische Gesetze wie das Leistungsschutzgesetz durchzusetzen. Die alten Institutionen wollen ihr Kapital schützen, weil sie es schwinden sehen. Das schafft eine Atmosphäre der Vorsicht und der Angst.
Ich feiere den Tod des Konzepts der „Masse“. Diese Verallgemeinerung ist nicht weniger als eine Beleidigung. Unsere Identität und Individualität werden nicht anerkannt.
Du sagst, die Massenmedien sind tot. Kannst Du nachvollziehen, warum viele Deiner ehemaligen Journalisten-Kollegen wütend auf Dich sind?
Ich habe nie gesagt, dass ich sie töten will. Ich sage nur, dass sie die Entwicklung verschlafen haben. Also ja, ich mache meinen Kollegen Druck, weil sie noch immer von ihrem Printprodukt abhängig sind. Ich feiere aber den Tod des Konzepts der „Masse“. Diese Verallgemeinerung ist nichts weniger als eine Beleidigung. Es ist die Behauptung, dass wir alle gleich sind. Unsere Identität und Individualität werden nicht anerkannt. Die gefürchteten Riesen Google und Facebook dagegen verstehen mich und erkennen mich als Individuum an. Auch wenn das die deutsche Datenschutz-Seele erschreckt.
Du schreibst in Deinem Blog, dass Datenschutz wichtig ist, aber nicht immer an erster Stelle stehen sollte. Für deutsche Ohren mag das irritierend klingen. Was ist wichtiger als mein Recht auf Privatsphäre?
Großzügigkeit, Teilhabe an der Gesellschaft und Redefreiheit. Wenn wir diese Werte nicht auch respektieren, verlieren wir die Fähigkeit zum gegenseitigen Mitgefühl. Ich habe über meinen Prostatakrebs und damit über meinen nicht funktionierenden Penis geschrieben. Noch offener kann man kaum sein. Ich habe daraus großen Nutzen gezogen. Ich habe viel von Menschen gelernt, die vor mir das Gleiche durchgemacht haben. Ja, die Privatsphäre muss geschützt werden. Aber auch Sharing und die Öffentlichkeit sind wichtig. Zu teilen ist ein Akt der Großzügigkeit, nicht der Invasion.
Aber wo ziehst Du die Grenze – welcher Teil der Privatsphäre sollte in der Redaktionellen Gesellschaft geschützt werden?
Privatsphäre beginnt und endet im eigenen Kopf: Du entscheidest, was Du weitergibst – ob das nun im persönlichen Gespräch ist oder auf Facebook. Sobald Du jemandem etwas erzählt hast, liegt die Verantwortung dafür auf dessen Schultern: Er kann entscheiden, was er damit anfängt. Privatsphäre ist also ein kooperativer Akt. Ich schreibe darüber in meinem Buch „Public Parts“ (in der deutschen Fassung: „Mehr Transparenz wagen!“). Ich argumentiere, dass es bei der Privatsphäre hauptsächlich um die Angst vor dem Blamieren geht. Vieles davon wird von den Normen der Gesellschaft bestimmt.
Warum wird das Thema Gesundheit stigmatisiert? Die COVID-19-Krise zeigt: Wenn jemand verheimlicht, dass er krank ist, ist das ein heimtückischer Akt, der andere verletzt.
Hast Du ein Beispiel dafür?
Daten über unsere Gesundheit, zum Beispiel. Ich habe Dir bereits von meinen Krankheiten erzählt – wie ein alter Mann das eben tut. Aber ich habe kein Problem damit, weil ich ein privilegierter Mensch bin, der eine Festanstellung hat und eine Krankenversicherung, und dem das niemand wegnehmen kann. Warum wird das Thema Gesundheit stigmatisiert? Die COVID-19-Krise zeigt: Wenn jemand verheimlicht, dass er krank ist, ist das ein heimtückischer Akt, der andere Menschen verletzen könnte. Wir müssen eine Gesellschaft aufbauen, in der wir offen über die Gesundheit sprechen. In der wir keine Angst davor haben müssen. In der die Menschen mit uns mitfühlen und uns gut behandeln.
Wir können diese Kultur des Versteckens also nur ändern, indem wir generell mehr Informationen austauschen?
Ja. Ich sage nicht, dass wir alles teilen sollten. Meine Frau würde mich umbringen, wenn ich Details über unsere Ehe oder unsere Kinder ausplaudern würde. Aber wenn wir bestimmte Informationen nicht teilen, kann sich das als eine sehr egoistische Handlung erweisen.
Ich habe den Eindruck, dass die Menschen sich vor der Erfindung der sozialen Medien dafür rechtfertigen mussten, warum sie sich in der Öffentlichkeit geäußert haben. Heute ist es umgekehrt: Man muss sich rechtfertigen, wenn man etwas privat halten will.
Das glaube ich nicht. Früher war Öffentlichkeit einfach teuer. Darum heißen Privatschulen in England „Public Schools“ – sie waren für privilegierte „öffentliche“ Männer und ihre Kinder gedacht. Privatsphäre war billig. Wir lebten in unserem kleinen Dorf, in unserer kleinen Hütte. Niemand interessierte sich für uns. Heute ist es schwieriger, unsere Privatsphäre zu bewahren, weil wir überall auf der Welt mit anderen in großer Geschwindigkeit interagieren. Ich möchte, dass wir uns die Zeit nehmen, mit diesen Freiheiten zu experimentieren und zu lernen, wie wir sie für das Gute nutzen können.
Wenn ihr in Europa euer Google oder euer Amazon haben wollt, dann müsst ihr Kapital riskieren und sie erfinden.
Warum sollen Unternehmen diese Debatte regulieren und nicht die Regierungen? Ich habe nicht für Facebook gestimmt, aber meine eigene Regierung gewählt.
Du hast auch nicht den Herausgeber der ZEIT oder des SPIEGEL gewählt. Plattformen wie Facebook sind nicht die Regulatoren, sie sind lediglich die Gastgeber. Ich kann entscheiden, wen ich zu einer Party bei mir zu Hause einlade und wen ich rausschmeiße, weil er sich wie ein Idiot verhält. Dasselbe gilt für Facebook. Dein Fehler besteht darin, anzunehmen, dass es eine zentralisierte Regelung für alles geben sollte. Wer Facebook nicht mag, kann ein anderes Netzwerk nutzen.
Dennoch sind Facebook und andere Technikgiganten mehr als Gastgeber: Sie wissen mehr über mich, als mir lieb ist. Ein anderes Argument in Deutschland gegen Google und Co. ist, dass sie nur drei Prozent Steuern zahlen. Was ist daran fair?
Das Problem liegt nicht bei Facebook oder Google – sondern bei den Gesetzgebern. Die Plattformen sind ihren Aktionären gegenüber verpflichtet, ihre Kosten zu senken. Sie nutzen legale Mittel, um ihre Steuern zu minimieren – wie jeder Bürger der Welt! Ich kenne niemanden, der freiwillig mehr Steuern zahlen würde. Das ist auch nicht ihre Aufgabe, sondern die der Regierung. Aber Regierungen konkurrieren untereinander und wollen die Unternehmen bei sich im Land behalten.
Bislang profitieren nur die Big Five im Wettbewerb: Apple, Google, Microsoft, Amazon und Facebook. Was macht Dich so zuversichtlich, dass sich das ändern wird?
Erinnerst Du Dich, als alle dachten, Microsoft würde die Weltherrschaft an sich reißen? Heute sagt das keiner mehr. Denken wir an FriendFeed oder MySpace. Unternehmen halten in der Regel nicht lange durch. Ich halte Google und Amazon für fantastische Firmen. Aber ich würde nicht darauf wetten, dass es sie ewig gibt. Wenn ihr in Europa euer Google oder euer Amazon haben wollt, dann müsst ihr Kapital riskieren und sie erfinden. Von Startups in Deutschland höre ich immer wieder, dass sie ihre erste Finanzierungsrunde in Deutschland schaffen. Aber wenn es um die zweite Runde geht? Dann trauen sich die deutschen Investoren nicht mehr. Deshalb wandern die Startups in die USA aus.
Jeff, wir haben viel darüber gesprochen, was die Deutschen alles falsch machen. Wenn Du für die deutsche Redaktionelle Gesellschaft entscheiden könntest: Was würdest Du als erstes ändern?
Für Deutschland gilt dasselbe wie für alle anderen Länder: Lernt, besser auf die Stimmen zu hören, die bisher untergegangen sind. Auf alle, die keine alten weißen Männer wie ich sind.
Und wie optimistisch bist Du, dass das in den nächsten Jahren geschehen wird?
Oh, sehr optimistisch. Wir finden immer einen Weg. Erinnern wir uns, dass die Druckerpresse von vielen als ein Übel angesehen wurde. Heute würden wir Bücher nicht mehr aufgeben. Das Internet verbindet alle Menschen miteinander und versorgt sie mit Informationen. Das Gute wird immer überwiegen.
Zur Person
Jeff Jarvis bloggt seit mehr als 20 Jahren über Medien und Kommunikation ( Buzzmachine). Er ist der Autor von Bestsellern wie „Was würde Google tun?“, in dem er die Prinzipien erläutert, die zu Googles Welterfolg geführt haben. Zuvor war Jeff Jarvis Journalist: Er gründete die Zeitschrift Entertainment Weekly, war Mitherausgeber der New York Daily News, Fernsehkritiker für TV Guide und People, Kolumnist des San Francisco Examiner und Reporter der Chicago Tribune. Jeff Jarvis ist ein gefragter Berater für Medienhäuser, Startups und Stiftungen zum Thema Digitalisierung und Medien. Darüber hinaus unterrichtet er Journalismus und ist Direktor des Tow-Knight Center for Entrepreneurial Journalism der City University of New York.
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