BeReal: Die Sehnsucht nach dem echten, schmutzigen Leben

Text von

Lukas Bernhart, Junior Strategist LOOPING GROUP

Foto von

Adam Hester via Getty Images
29.09.2022 5 MINUTEN

  • Seit einigen Wochen ist BeReal auf Platz 1 der meistgeladenen kostenlosen Apps.

  • Die App positioniert sich als das Anti-Instagram und vor allem die Gen Z feiert sie für ihre Authentizität.

  • Kann so eine App wirklich das Next Big Thing werden – oder wird der Hype bald verpuffen?

Monica hat die Kapuze ihres Bademantels tief ins Gesicht gezogen und liegt zugedeckt im Bett, vor ihr ein aufgeklappter Laptop, auf dem Trash TV läuft. Juliette ist 17 Minuten late und hat den Mund voll mit Essen. Vor ihr steht ein Teller mit Nudeln zusammen mit etwas, das nach Kühlschrankresten aussieht. David ist drei Stunden late, er zieht im Dunkeln an seiner Zigarette und läuft eine Straße entlang, die man nur schwer erkennt, da das Bild verschwommen ist.

Die App der Stunde ist ganz klar BeReal. Auch wenn es die französische Social Media App bereits seit 2020 gibt, erlebt sie gerade in den letzten Monaten einen nicht zu ignorierenden Hype und ist seit einigen Wochen auf Platz 1 der meistgeladenen kostenlosen Apps. Das Wachstum ist rasant: Von zehntausend täglich aktiven User:innen im März 2021 zu mehr als zehn Millionen jetzt, im September 2022.

So funktioniert die App

BeReal bedeutet: back to banality, back to reality. Im Gegensatz zu Instagram, TikTok & Co. ist die App herrlich unkompliziert und aufs Wesentliche reduziert, ohne viele Features oder Schnickschnack. 

Das Prinzip ist so einfach wie genial: Einmal am Tag werden User:innen zu einem zufälligen Zeitpunkt aufgefordert, ein BeReal zu erstellen, für das sie zwei Minuten Zeit haben. Ein BeReal ist ein Foto ohne Filter oder sonstige Bearbeitungsmöglichkeiten. Besser gesagt sind es zwei Fotos, da die App gleichzeitig je eine Aufnahme mit der Front- und eine mit der Rückkamera macht, was die ultimative Realness der Situationen einfangen soll. 

Einseitiges followen ist nicht möglich und andere Beiträge von Freund:innen werden erst sichtbar, nachdem man selbst sein BeReal geteilt hat. Womit es einem verwehrt bleibt, nur stiller Beobachter zu sein. Ähnlich wie bei Messenger-Diensten und anderen Apps kann auf Beiträge mit selbst nachgestellten Emoji-Reaktionen und Textkommentaren reagiert werden. Verpasst man es, sein BeReal innerhalb der zwei Minuten nach Aufforderung zu posten, wird es als late markiert.

Das Anti-Instagram

BeReal ist als selbsternannter Antagonist zu Instagram angetreten. Die App ist dazu designt, nur ein bis zwei Mal am Tag geöffnet zu werden, um zu posten und zu schauen, was die Freund:innen so treiben. Ohne gesponsorte Beiträge, algorithmische Content-Vorschläge und Infinite Scrolling ist dementsprechend die Verweildauer sehr viel kürzer. 

Dass TikTok und Instagram, die sich mittlerweile in erster Linie als Entertainment-Plattformen verstehen, schlecht für die Psyche sind, ist lange kein Geheimnis mehr. Der Launch Instagrams 2010 markierte den niederschwelligen Zugang zu rudimentärer Bildbearbeitung für alle. In der Benutzung der App liegt quasi schon der Imperativ zur Verschönerung seiner Bilder, was eine Ästhetik der Verschleierung und Idealisierung kultiviert hat. Das retuschierte Ich und das idealisierte Leben werden inszeniert. 

Der Konsum unrealistischer Körperbilder und elitärer Lebensstile (der Influencer:innen) erzeugt gerade bei jungen Menschen enormen Druck. Man fühlt sich arm, unbeliebt, benachteiligt, zu dick, zu schlank, zu hässlich. 

Während man sich die Psyche kaputt scrollt, wird man gleichzeitig noch mit einer schamlosen Menge an Werbung bombardiert. Bei Instagram sind es mittlerweile sogar bis zu drei gesponsorte Stories hintereinander. Dazu kommt die Entmündigung der User:innen durch den algorithmisch ausgespielten Content, für den man sich nie aktiv entschieden hat. Einmal im Internet falsch abgebogen und unachtsamer Weise das ein oder andere Reel zu lange geschaut und zack, ist der Feed ruiniert. Der Content der eigenen Bekannten ist da schon lange in den Hintergrund gerückt.

Die Sehnsucht der Gen Z nach dem ungefilterten Leben

Und genau hier bietet BeReal ein disruptives Gegenangebot an und trifft damit vor allem den Nerv der jüngeren Generation. Denn die treibende Kraft hinter BeReals Momentum ist – wer hätte es gedacht – Gen Z. 55% der User:innen sind zwischen 16 und 24 Jahre alt. Bei ihnen hat die App es geschafft, anhaltende kulturelle Relevanz zu erlangen, die kontinuierlich wächst, was den Buzz eines kurzen Hypes übersteigt. Dem Ganzen liegt ein kollektives Bedürfnis nach Repräsentationen des echten, unbeschönigten Lebens zugrunde.

Diese Entwicklung zeichnet sich schon länger ab und verkörpert die Gegenbewegung zur idealisierten Instagram-Ästhetik. In den letzten Jahren fingen User:innen an, vermeintlich unästhetische Motive, unvorteilhafte Selfies, verpixelte Screenshots und nah rangezoomte Fotoausschnitte in scheinbar wahllosen Photo-Dumps zu teilen. 

VICE bezeichnete die aus dem neuen User:innenverhalten resultierende Ästhetik als „Instagram’s peak ugly era“. Man kann es als kulturelle Weiterentwicklung oder als Reaktion auf die bis dato vorherrschenden ästhetischen Ideale der Plattform betrachten.
Denn wenn aus allem und jedem jegliche organische Realität wegretuschiert wurde, alles bis zur völligen Verfremdung tot-idealisiert und inszeniert wurde, setzt die Entfremdung des Subjekts von seiner eigenen Repräsentation ein. Kurzum: Wir entfremden uns von unseren eigenen Bildern und Videos, die ja eigentlich unsere Realität abbilden sollen.

So gesehen ist BeReal die App-Antwort auf ein starkes kollektives Bedürfnis nach aufrichtiger Nähe, nach Echtheit und Authentizität. Es bietet eine Umgebung, in der die Gen Z individuelle Eigenschaften nicht als Makel und Abweichungen der Norm verschleiern, sondern als besondere Singularitäten feiern. Die ironische, fast schon punkige Subversion der clean girl aesthetic auf TikTok zeigt ebenso, dass die jüngere Generation Bock hat auf das echte Leben und abgeturnt ist von konventionellen Beauty-Ästhetiken.

Ambitionierte Ziele – aber noch kein Geschäftsmodell

Auf jede kulturelle Strömung folgt eine Gegenbewegung. Das soll aber nicht heißen, dass BeReal eine neue romantische Kulturepoche der ungeschönten Realness einläutet. Denn auch die schöne Idee eines no-bullshit Social Media Netzwerkes, das Authentizität und authentische Interaktionen feiert, unterliegt den Verwertungslogiken des Marktes. 

Das ganze Ding muss sich ja wirtschaftlich irgendwie tragen, ganz unromantisch. Und da sind derzeit noch einige Fragen offen. Denn wie das Geschäftsmodell so richtig aussieht, weiß aktuell noch niemand so genau. Im letzten Jahr hat BeReal Investments in Höhe von insgesamt 115 Millionen Dollar eingeholt, mit dem Ziel, die technische Infrastruktur für mehr als 100 Millionen User:innen auszubauen. Das ist ambitioniert und bedeutet auch, dass das Unternehmen bald unter Druck stehen wird, Umsatz zu machen. Vermutet wird, dass sich die Plattform auch irgendwann für Werbung öffnen könnte, oder dass die Nutzung kostenpflichtig wird. 

Dazu kommt, dass die großen Plattformen an Features arbeiten, die BeReal kopieren. TikTok kündigte im September TikTok Now an und Instagram führt gerade Dual ein. Somit ist auch nicht auszuschließen, dass es BeReal anders ergehen sollte wie Snapchat oder Clubhouse. Aber wenn die größten Plattformen einen kopieren, macht man auf jeden Fall schon Mal einiges richtig.

Zur Person

Lukas Bernhart studierte angewandte Kulturwissenschaft und Kultursemiotik (MA) an der Universität Potsdam. Sein Forschungsinteresse konzentrierte sich dabei auf das mediale Zusammenspiel zwischen Pop- und Subkulturen in der Spätmoderne. Parallel zum Studium arbeitete er bei Universal Music im Bereich Artist Branding und Audience Insights. Seit Dezember 2021 ist er Junior Strategist bei der LOOPING GROUP in Berlin und Deputy Editor von @h4ck.mag auf TikTok.

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