Bochum, Männer und Wahrheiten im Bauch

Wie wir in der Redaktionellen Gesellschaft Debatten führen – und führen könnten.

Text von

Dr. Carsten Brosda, Senator der Hamburger Behörde für Kultur und Medien

Artwork von Sofia Apunnikova, Senior Creative LOOPING ONE LINKEDIN
24.04.2024 15 MINUTEN

  • Die Debattenkultur ist hierzulande erhitzt: „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen“ versus „Macht mal Platz, ihr alten weißen Männer“. Davon profitieren jedoch nur die, die Chaos wollen, um letztlich ihre eigenen undemokratischen Regeln durchzusetzen.

  • Wie können wir die Werte der Aufklärung verteidigen, wenn Werte wie Freiheit zu Kampfbegriffen verkommen? Was können wir der Empörungskultur entgegensetzen, um wieder vernünftige Debatten zu führen?

  • Ein Gastbeitrag von Dr. Carsten Brosda, Senator der Hamburger Behörde für Kultur und Medien.

Wahrheiten können vielgestaltig sein. Bitter, halb, unbequem, gefühlt – oder eben auch „flüchtig“. Die Entscheidung für dieses letzte Adjektiv führt die diesjährigen WEIMARER REDEN heran an eine wahrlich brisante und aktuell durchaus dringliche Frage: Haben moderne Gesellschaften, just in dem Moment, in dem die Versprechen der Aufklärung weitgehend eingelöst sind, die Kraft verloren, mit den dadurch gewonnenen Freiheiten umzugehen?  

Wer auf die öffentliche Debatte schaut oder gar in die Kommentar-Threads auf einer Social Media-Plattform, mag geneigt sein, lauthals „ja“ zu rufen. Schon vor ein paar Jahren veröffentlichte der Berliner Tagesspiegel eine Karikatur, auf der eine Familie vor dem Fernseher saß. Darüber schwebte eine Sprechblase: „Guten Abend, meine Damen und Herren. Alle verrückt geworden. Und jetzt das Wetter.“  

Ich habe das gesehen und gedacht: „Wie wahr!“ So viel geht aktuell durcheinander. So wenig Verständnis oder auch nur Verständigungsbereitschaft ist sichtbar. So sehr verkeilen sich die jeweils vehement vorgebrachten Wahrheitsansprüche. Dabei ist es doch das Ergebnis von mehr als drei Jahrhunderten Aufklärung, dass Wahrheitsansprüche nicht mehr einfach bloß deshalb gelten, weil sie auch gestern und vorgestern schon erhoben wurden. Gerade weil sie nach Diskussion und Übereinkunft verlangen, sind Wahrheiten heute sui generis flüchtig. Es liegt an jedem und jeder Einzelnen, sie festzuhalten. Immer wieder aufs Neue.  

Natürlich ist das anstrengend. Aber niemand sollte vergessen, dass jede vermeintlich einfachere Alternative mutmaßlich weniger Freiheit mit sich brächte. Und dennoch wünschen sich manche, jemand würde einfach wieder feststellen, was gilt. Sie wollen zurück in eine Zeit, in der die Dinge geordneter schienen. Selbst unter den 18- bis 34-Jährigen sagten kürzlich 56 Prozent, dass sie lieber in der Vergangenheit leben würden, weil es da weniger Krisen gegeben habe. Wie viel hoffnungsvoller wäre es, wenn sie lieber in einer Zukunft leben würden, die sie gemeinsam besser machen, denn in einer Vergangenheit, die wahrscheinlich auch nie wirklich besser war?  

Offensichtlich aber schwindet die Zuversicht, dass Bürgerinnen und Bürger es gemeinsam auch in der Zukunft hinbekommen können. Offensichtlich ist das Bewusstsein für das verloren gegangen, was Menschen in die Lage versetzt, Übereinkünfte über das Wahre und Richtige zu erreichen. Stattdessen ziehen sich immer mehr in ihre eigenen Erfahrungswelten, Vorurteile und Wünsche zurück. Und begegnen sich dann öffentlich als Fremde, unfähig ein gemeinsames Fundament zu finden.  

Um aus dieser Falle wieder herauszukommen, ist es notwendig, zunächst den eigenen Standort und die Perspektive zu klären. Sie entscheiden schließlich darüber, welche Wahrheiten gelten sollen – und von wo aus jeder nach Gemeinsamkeit sucht, um der allerorts drohenden Beliebigkeit zu entgehen, die aktuell so schnell zu aggressivem Unverständnis führt. Das will ich im Folgenden versuchen. Und muss daher zunächst zurück zu einer Zeit „tief im Westen“.  

Im August jährt sich die Veröffentlichung einer Platte zum 40. Mal, anhand derer sich die alte westdeutsche Bundesrepublik, in der ich aufgewachsen bin, ganz gut begreifen lässt. Zumindest die Region, in die ich geboren wurde. 4630 Bochum von Herbert Grönemeyer: Bochum. Männer. Flugzeuge im Bauch. Alkohol. Amerika. Für dich da. Jetzt oder nie. Fangfragen. Erwischt. Mambo. So heißen die zehn Songs, in denen Grönemeyer eine Welt und ein Gefühl einfängt, die heute sehr weit weg scheinen. Da geht es um Patriotismus und Heimatgefühl, um Männer, Alkohol, zwischenmenschliche Unmöglichkeiten und Herzschmerz. Um Liebeskummer, der wie Flugzeuge im Bauch herumschwirrt. Um US-amerikanische Atomraketen und die Parkplatzsuche, die den Weg zum Date erschwert. Wenn ich das heute höre, macht sich trotz aller Distanz wohlige Melancholie in mir breit. Ja, so war das damals …  

Die ersten Zeilen der Platte haben sich eingebrannt. Sie werden bis heute bei den Konzerten lauthals mitgesungen: „Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, ist es besser, viel besser als man glaubt.“  

Irgendwie klingt das trotzig. Und so ist es auch gemeint. Wenn Klavier und Schlagzeug danach gleichzeitig einsetzen, bekommt man das Gefühl, jemand schlage mit dem Hammer auf ein Stück Metall. Und noch mal klarer wird das, wenn kurz darauf die E-Gitarre einsetzt. Da geht der besungene „Pulsschlag aus Stahl“ durch Mark und Bein.  

Die Liebeserklärung an die Stadt mitten im Ruhrgebiet ist auch eine Reaktion darauf, dass der Rest des Landes schon damals bestenfalls mitleidig auf die schwindende Industrieregion im Westen schaute. Aber diese Gegend ist eben Heimat. Für Herbert Grönemeyer. Und für mich auch.  

Ich bin in 4650 Gelsenkirchen aufgewachsen. Das ist nicht nur geographisch nah dran an 4630 Bochum. Grönemeyer singt aus dem Herzen des Reviers heraus. Und reklamiert damit zugleich, dass es wichtig ist, die eigene Geschichte selbst zu erzählen. Das bleibt, selbst wenn man heute in Berlin oder Hamburg lebt. Diese Geschichte verschwindet nicht.  

„Bochum, ich komm aus Dir Bochum, ich häng an Dir Oh, Glückauf, Bochum“– das ist es, was nicht nur mich seit damals so für diese Musik einnimmt. Ich selbst bin zehn Jahre vor Veröffentlichung der Platte geboren worden. Das Gefühl, mich für meine Herkunft rechtfertigen zu müssen, hat mich begleitet. Wenn wir im Urlaub an die Ostsee fuhren und durch unser „dat“ und „wat“ zu erkennen gaben, woher wir kamen, ernteten wir mitleidige Blicke. Denn unsere Sprache galt und gilt bis heute nicht als Dialekt, sondern als Ausweis mangelnder Bildung.  

Mein Vater sagte: „In solchen Momenten musst du das Kreuz fest durchdrücken.“  Er hatte das Ruhrgebiet zeitlebens nur im Urlaub verlassen und erinnerte uns Kinder daran, dass in der Region die Industrie stand, die alle in Westdeutschland „am Kacken“ gehalten hatte, wie er es rustikal formulierte. Von dort stammten die Mittel im Länderfinanzausgleich, der den Abschied Bayerns und Baden-Württembergs von der Landwirtschaft ermöglichte. Und dorthin kamen in der Nachkriegszeit die Spielenden der Hamburger Theater, um Kunst gegen Kohle und etwas Wärme zu tauschen. Daraus sind die Ruhrfestspiele in Recklinghausen geworden. [Manchmal frage ich mich, wie mein Vater es wohl gefunden hätte, wenn er noch mitbekommen hätte, dass sein Sohn heute als Hamburger Senator, also als Kulturminister, für eben diese Theater zuständig sein würde?]  

Auch bei Grönemeyer fand ich die Gewissheit, dass es keinen Grund gebe, sich bemitleiden zu lassen, nur weil man aus einer bestimmten Gegend kommt. Aus einer Gegend, in der schon der Kaiser keine Universitäten und keine Kasernen haben wollte, weil stattdessen gearbeitet werden sollte. Aus einer Gegend, die schon ein Schmelztiegel der Kulturen war, als andere sich in Deutschland noch in homogene Kulturfantasien verstiegen. Aus einer Gegend, in der Özgür und Jakub selbstverständlich Teil meines Freundeskreises waren. Im Ruhrgebiet gab es vielleicht keine alten Kirchen, Schlösser oder Museen, aber dafür hatten wir Paläste der Arbeit, von denen viele in meiner Jugend bereits dicht gemacht wurden und langsam verfielen. Ihre Wiederentdeckung als romantische Tourismusattraktionen kam erst später. Aber als ich dort aufwuchs, erinnerten sich die meisten noch: Ohne das Ruhrgebiet wäre der Wohlstand Westdeutschlands nicht entstanden. Und das war nichts Abstraktes, sondern das Werk vieler Menschen, die dafür jeden Tag hart arbeiteten und daraus ihren Stolz zogen.  

Hätte ich damals, Anfang der 1980er-Jahre, schon Georg Kreislers böse Ode Gelsenkirchen gekannt, hätte ich das alles besser verstanden. Den Stolz. Den Trotz. Die Wut darüber, von außen beschrieben zu werden. Und auch den latenten Minderwertigkeitskomplex. Der Wiener Liedermacher dichtete 1958, als der Verein meiner Heimatstadt, der FC Schalke 04, zum vorerst letzten Mal westdeutscher Fußballmeister wurde: „Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen! / Herrliche Stadt der großdeutschen Kohlenbergwerkindustrie / Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen! / In unserer einzigartigen Brennstoffdemokratie! / Lieblich schweben durch die Luft die schwarzen Dämpfe / Und mit heiterem Gesang / Nimmt man Kohlen in Empfang / Wer zu lang dort lebt, bekommt beim Atmen leichte Krämpfe / Aber wer lebt dort schon lang?“

Der schwarze Humor des österreichischen Kulturbürgers ließ kein gutes Haar an der proletarischen Gegenwart des Ruhrgebiets. Als Kreisler das Lied 1961 im Fernsehen sang, beschwerte sich die Gelsenkirchener Stadtspitze. So despektierlich wollte man sich nicht porträtiert sehen. Der Sender entschuldigte sich. Denn auch das gehörte schon damals dazu. Ganz, wie mein Vater es uns in den Ferien lehrte: Wenn dich jemand anmacht und deine Heimat angeht, dann drückst du das Kreuz durch und wehrst dich.  

Der spätere SPD-Kulturdezernent von Gelsenkirchen, Peter Rose, hat dieses Lied und seinen Dichter gut ein halbes Jahrhundert später in Schutz genommen: „Hier hat die Kunst als die Substanz der Kultur ein Gemeinwesen erschlossen und in eine die Sinne und den Verstand anregende Form gebracht. Das nenne ich ‚Kunstwirken‘.“ Und er hat natürlich recht: So weit entfernt von der Wahrheit war die aus Wien herüberwehende Satire auch in meiner Jugend nicht. Man wollte sie bloß nicht von außen erzählt bekommen. Aber natürlich redete man auch in den siebziger und achtziger Jahren tatsächlich noch davon:  

Von der Wäsche, die beim Trocknen auf den Balkonen grau wurde. 

Von den Verwandten, die früh an der Staublunge und noch früher am Krebs starben. 

Von den Tagen, in denen die Fußgängerzone zwar auch schon hässlich, aber immerhin noch umsatzstärker als alle anderen in der ganzen Republik war. 

Vom schönen alten Rathaus und vom Bahnhof, die einem verwirrten Verständnis von Moderne weichen mussten und an deren Stelle hässliche gelbe und grüne Klötze entstanden. Vom Kampf um die ebenfalls vom Abriss bedrohten Bergarbeitersiedlungen, die die Nachbarschaft in kleine Idyllen verwandelt hatten.  

Überall war da diese trotzige Mischung aus Stolz und Melancholie. Und überall waren seit 1984 auch die Lieder des Albums 4630 Bochum. Als ein trotziger Gegenentwurf. Als ein Bekenntnis dazu, dass es nun einmal so ist, wie es ist bei uns. „Woanders ist auch Scheiße“, lautete in meinem Freundeskreis die rustikalere Version dieser Emotion. Die Platte erschien in der Zeit, in der in meiner Heimatstadt Gelsenkirchen der letzte Hochofen stillgelegt wurde, gerade einmal anderthalb Jahrzehnte nach der stolzen Feststellung, dass in keiner Stadt in Europa mehr Stahl gekocht würde als hier.  

Heute hat das angrenzende Sauerland – in meiner Jugend noch die Gegend für Ausflüge in dichte Wälder und an malerische Stauseen – einen höheren Anteil an produzierendem Gewerbe als das ehemalige industrielle Herz Westdeutschlands an Ruhr und Emscher. Wahrheiten sind flüchtig. Trotzdem will ich diese Lieder nicht hergeben oder gar loslassen. „Gib mir mein Herz zurück, bevor es auseinanderbricht“, singt Grönemeyer in Flugzeuge im Bauch. Wer kennt das Gefühl nicht? Was sich wahr und wichtig anfühlt, will man festhalten, bevor jemand anderes es kaputt macht. Aber natürlich lässt sich das meiste eben nicht einfach unbeschadet bewahren. Wenn die Dinge sich verändern, dann verändern sie sich. Und die Frage ist eher, ob man das bloß mit sich geschehen lässt, oder ob man es selbst in der Hand hat, die Dinge mitzugestalten.  

Veränder‘ dich, sonst verändern dich die anderen. Das war auch im Ruhrgebiet das Gefühl, als die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR begannen, die Mauer zwischen den beiden deutschen Staaten einzureißen. Wir spürten: Hier geht auch bei uns etwas zu Ende. Und es entsteht etwas Neues, etwas, das noch nicht fassbar ist, das aber grundlegend anders sein wird. Der spätere Gelsenkirchener Oberbürgermeister Frank Baranowski hat daran erinnert, dass die Wiedervereinigung für meine Heimat mitten in eine Phase dramatischer wirtschaftlicher Umbrüche fiel: „Denn 1989 war nicht nur in Ostdeutschland ein Jahr des Umbruchs, sondern auch im Westen änderte sich vieles. Weniger auffällig zwar, nicht in der Gesellschaftsform, aber doch in der Wirtschaftsstruktur, gerade bei uns im Ruhrgebiet. Die Jahre rund um 1989 waren Hoch-Zeit des Strukturwandels, es waren Jahre, als die Schwerindustrie nach und nach aus Europa verschwand, westlich wie östlich der Mauer – und damit verschwand auch das alte Ruhrgebiet. Der Kohlenpott und das Steinkohlerevier wurden historisch, zu einem Fall fürs Archiv und für die Stadtgeschichte.“  

Die Dinge veränderten sich, aber was das für uns tief im Westen bedeutete, blieb zunächst diffus. Erst später, als die Diskussion um die West-Ost-Transfers hohe Wellen schlug und die Bürgerinnen und Bürger klammer Ruhrgebietsstädte mit ihrer kaputten Infrastruktur haderten, wurde offensichtlich, was versäumt worden war.  

1989 kam die historische Zäsur zunächst vor allem als ein großes Versprechen daher. Geprägt in den achtziger und neunziger Jahren erlebte meine Generation den vermeintlich endgültigen Sieg der Freiheit und das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama): „Ein Mehr an Demokratie, Wohlstand, Frieden und Selbstverwirklichungschancen schien der Horizont unserer Gegenwart zu sein. Die Entwicklung, glaubten wir im Westen, vollzöge sich wie von selbst, von einer unsichtbaren Hand der Geschichte geschoben. Und im Osten blieb trotz der Ernüchterung doch die Erfahrung, dass man die Geschichte in die Hand nehmen und Diktaturen am Ende stürzen kann“, schreibt die in Bremen geborene Schriftstellerin Nora Bossong zu Recht. So wie ich mich erinnere, lag damals viel Pathos in der Luft, selbst im sonst so bodenständigen Ruhrgebiet.  ´

Klaus Meine von den Scorpions pfiff die neue Hymne Wind of Change, der Kanzler glaubte ein Stück vom Mantel der Geschichte zu fassen zu bekommen und ich versuchte, ganz arroganter West-Teenager, zu entscheiden, ob ich die Trabis, die bei uns weit im Westen ankamen, wirklich für Autos halten sollte oder nicht doch lieber für überdachte Rasenmäher.  Aber dass da etwas Besonderes passierte, war spätestens seit jenem Moment klar, als Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon der Deutschen Botschaft in Prag stieg und den geflüchteten DDR-Bürgerinnen und Bürgern im Garten sagte, dass ihre Ausreise genehmigt worden sei. Der in meiner Jugend so eiserne Vorhang, den wir als Familie in jedem Urlaub an der Ostsee auf dem Priwall in Travemünde begutachteten, hatte zu rosten begonnen und war durchlässig geworden. Da hatten Menschen ihre Freiheit erkämpft gegen ein Land und ein System, das meinte, es besser zu wissen als seine Bevölkerung. Übrigens auch, weil es eben keine öffentliche Sphäre gab, in der man vorher hätte verhandeln können, was schiefläuft und was man verbessern müsste, um weiterzumachen. Ich war damals fünfzehn Jahre alt und hatte bislang nicht erleben müssen, dass man für die Freiheit kämpfen musste. Natürlich habe ich mich mit meinen Eltern gekabbelt, wie lange ich am Wochenende abends wegbleiben durfte, aber das waren noch nicht mal Wohlstandsprobleme im Vergleich zum Kampf um die Freiheit, sagen zu dürfen, was man denkt, und dahin reisen zu können, wohin man möchte. So richtig begriffen habe ich das erst, als ich später die ersten Freunde hatte, die im Osten aufgewachsen waren. 

Dieses wechselseitige Unverständnis hat vor einigen Jahren die Hamburger Band Kettcar in einen Song über einen jungen Mann gefasst, der im Herbst 1989 zum Fluchthelfer wurde. Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun) sollte Parallelen zu den jüngeren Migrationsbewegungen verdeutlichen, aber es spekuliert auch gekonnt über die mentalen Zustände der Vereinigungszeit. Das Lied beschreibt nicht nur die damaligen abstrakt-politischen westdeutschen Vorbehalte, sondern auch die vielen Träume, die sich mit der neu errungenen Freiheit im Osten mutmaßlich verbanden: „Sie kamen für Kiwis und Bananen / Für Grundgesetz und freie Wahlen / Für Immobilien ohne Wert / Sie kamen für Udo Lindenberg / Für den VW mit sieben Sitzen / Für die schlechten Ossi-Witze / Sie kamen für Reisen um die Welt / Für Hartz IV und Begrüßungsgeld / Sie kamen für Besser-Wessi-Sprüche / Für die neue Einbauküche / Und genau für diesen Traum / Schnitt er Löcher in den Zaun.“ 

Ob es diese oder andere Träume waren, weiß ich nicht. Aber dass die Mischung aus groß und banal, persönlich und grundsätzlich in solchen Situationen fast immer stimmt, ist mehr als plausibel. Ich hatte damals als Jugendlicher keinen Bolzenschneider. Der Geschichte habe ich nur zugesehen. In meinem Alltag war Freiheit irgendwie selbstverständlich, zumindest die kleine Freiheit der persönlichen Entscheidungen. Vielleicht blieb das Geschehen in der damaligen DDR für mich auch deshalb zunächst so merkwürdig abstrakt. Es berührte mich viel weniger, als es eigentlich sollte. Das änderte sich, als ich 1991 Jugendliche in einer Schweriner Plattenbausiedlung kennenlernte, deren Jugendclub gerade ein paar Tage vorher von Skinheads zerlegt worden war. Da begriff ich plötzlich, wie komplex es sein konnte, in so einen Umbruch hinein aufzuwachsen, wie hart und desillusionierend. Mir imponierte dieses trotzige Trotzdem, dass wir in dem Club damals spüren konnten. Und dabei ahnte damals kaum einer, dass wir 30 Jahre später mal von den Baseballschlägerjahren reden würden.  

Ganz anders – viel sanfter und zugleich grundsätzlicher – packte es mich zwei Jahre später, als ich im Rahmen eines innerdeutschen Schüleraustausches in der Nicolaikirche in Leipzig saß. Dort hörte ich Pfarrer Christian Führer zu, der von jenen turbulenten Wochen im Jahr 1989 berichtete, als aus Friedensgebeten eine friedliche Revolution wurde, die ein Regierungssystem beseitigte, weil die Menschen endlich frei denken, sprechen und reisen wollten. Bis dahin aber hatte ich die Wiedervereinigung vor allem mit Marius Müller-Westernhagen assoziiert. Der hatte 1987 in einem Song, nur von einem Klavier begleitet, den Verlust der Freiheit betrauert. Im Dezember 1989 nahm er in der Dortmunder Westfalenhalle ein Konzert auf, das 1990 als Live-Doppelalbum erschien. Auch hier war der Song mit dem Titel Freiheit enthalten. Es ist diese Version, die mich jahrelang begleitet hat. Nach der Anmoderation „Okay, singen wir noch einen“ setzt das Klavier ein und die Zigtausend in der Halle singen von der ersten Zeile an lautstark mit.  

Der Song beginnt mit einer klagenden Feststellung: „Freiheit ist das Einzige, was fehlt“. Der Song war damals überall.  Als ich im Sommer 1990 bei einem Open Air dieser Tour im Gelsenkirchener Parkstadion stand, konnte ich diese Zeilen kaum erwarten. Den ganzen Nachmittag hatte es geregnet. Doch als Westernhagen spät am Abend die Bühne betrat, riss wie aufs Stichwort der Himmel auf. Wir standen im Matsch des Stadionrasens und spürten jedes Wort: „Alle die von Freiheit träumen / Sollten’s Feiern nicht versäumen / Sollen tanzen auch auf Gräbern / Freiheit, Freiheit / Ist das Einzige, was zählt.“ Für mich war das der Soundtrack jener Tage. Da konnte David Hasselhoff später noch so oft behaupten, dass er mit seinem 1989er-Schlager Looking for Freedom die Mauer im Alleingang zum Einsturz gebracht habe. Für mich hatte Westernhagen schon vorher die Worte gefunden, nach denen ich selbst gesucht hatte. Feierlich und doch lakonisch – so wünsche ich mir die Freiheit in einer Demokratie. Aber natürlich sind die Zeilen dieses kurzen Liedes skizzenhaft. Und sie führen sogar an entscheidender Stelle auf die falsche Fährte. Damals fiel mir das nicht auf. Aber ist Freiheit wirklich „das Einzige, was zählt“? Kann man das so apodiktisch behaupten?

Mit dem Wissen von heute, glaube ich das nicht. Damals aber habe ich vielleicht nicht ausreichend darauf geachtet. Natürlich: Ohne Freiheit ist alles nichts, aber das heißt nicht, dass der Umkehrschluss auch richtig wäre. Es ist vielmehr so, dass es Bedingungen braucht, damit Freiheit gelebt werden kann. Westernhagen singt: „Der Mensch ist leider nicht naiv / Der Mensch ist leider primitiv / Freiheit, Freiheit / Wurde wieder abbestellt“.  

Freiheit ist Voraussetzung und Folge ihrer eigenen Bedingungen. Sie kann ihre eigenen Grundlagen aber nicht garantieren, sondern muss sie anderweitig suchen. Sie braucht Verantwortung für das eigene Handeln und Respekt vor den anderen. Das macht die Angelegenheit notgedrungen kompliziert. Deshalb ist die Beschäftigung mit der Freiheit aber auch ein so spannendes Projekt. Allerdings auch eines, bei dem wir alle miteinander momentan nicht gerade die beste Figur machen. Freiheit scheint zur prekären Ressource zu werden. Die Gegenwart und ihre Probleme scheinen so kompliziert geworden zu sein, dass sich immer weniger Menschen zutrauen, sie zu verändern. Stattdessen werden Bedenken geäußert, Sachzwänge angeführt, vergebliche Versuche der Vergangenheit geschildert. Das kann man sogar messen: In der vorletzten PISA-Studie wurden fünfzehnjährige Schülerinnen und Schüler gefragt, ob sie der Aussage zustimmen, dass sie etwas gegen die Probleme der Welt tun können. Im Schnitt haben 60 Prozent der Befragten in den OECD-Ländern dem zugestimmt. In Portugal waren es mehr als 74 Prozent, in Taiwan sogar über 80 Prozent. Und in Deutschland? So wenig Jugendliche wie nirgendwo sonst: Gerade 40,9 Prozent glauben, dass sie etwas tun können, das die Probleme der Welt lindert.  

Aktuell besteht Anlass zu der Hoffnung, dass es gelingt, aus dieser sozialen Resignation herauszukommen. Der demokratische Aufstand der Anständigen seit Jahresbeginn macht Mut. Hunderttausende wenden sich endlich gegen eine Politik, die Deutschland in die fünfziger oder gar dreißiger Jahre zurückführen will. Und zwar nicht nur in den großen Metropolen, sondern überall im Land. Aber es wird nicht reichen, bloß nein zu sagen und damit implizit den Status Quo zu bekräftigen. Solange nur diejenigen als eine Alternative erscheinen, die zurück in die Vergangenheit wollen, fehlt etwas Entscheidendes. Eine Idee, wie es gut nach vorne gehen könnte. Durch die ganzen Schwierigkeiten hindurch. In die Zukunft gehen. Diese Idee lässt sich nur aus der gesellschaftlichen Mitte heraus entwickeln. Denn so wie schon 1989 geht es wieder um etwas. Und zwar um etwas Grundsätzliches. Um die Demokratie.  

Aktuell erscheinen Bücher, in denen über ihren Tod nachgedacht wird. Es heißt plötzlich, dass die moderne Demokratie vielleicht auch nur eine Episode in der Menschheitsgeschichte sei. Und dass die autokratischen Systeme das mitbrächten, was es für die aktuellen Wandlungsprozesse bräuchte. Es scheint so, als müssten wir die Zukunft der Demokratie wieder einmal erringen. Diesmal in West und Ost gemeinsam. Und dieser Kampf um die Demokratie ist eben auch ein Kampf darum, wie die flüchtigen Wahrheiten des Miteinanders entstehen. Dass genau das schwieriger wird, ist einer der zentralen Gründe für die Schwierigkeiten, in die eine offene, vielfältige, demokratische und freie Gesellschaft zunehmend gerät.  

Vor ein paar Jahren hat die ehemalige Literaturkritikerin der New York Times Michiko Kakutani ein schmales Büchlein geschrieben, das den Titel Der Tod der Wahrheit trug. Es ist eine Streitschrift gegen den sehr speziellen Umgang mit der Wahrheit, den der damalige und vielleicht zukünftige US-Präsident Donald Trump pflegt. Und es hat eine sehr besondere Pointe: Kakutani zufolge schlagen Populisten wie Trump die Aufklärung mit ihren eigenen Mitteln. Denn wenn nichts mehr feststeht, dann lässt sich unwidersprochen alles behaupten. Und zwar in solch unüberschaubarer Fülle, dass niemand mehr weiß, wem oder was man jetzt eigentlich noch glauben soll.  

Die Freiheit ist nicht dagegen gefeit, von ihren Feinden gegen sich selbst genutzt zu werden. Kakutani macht den Beginn dieser Entwicklung in den Ideen der Postmoderne aus. Diese hatten zunächst befreiende Wirkung, weil sie die letzten ehemals ehernen, vermeintlich objektiven und in Stein gemeißelten Wahrheitsansprüche verflüssigt haben. Und das zu einer Zeit, als andernorts die Wahrheiten noch als endgültig erkannt schienen, weil sie durch die Geschichtsphilosophie des historischen Materialismus nun einmal nur so und nicht anders denkbar waren. Die postmodernen Denkerinnen und Denker hingegen betonen, dass es unterschiedliche Erzählungen, unterschiedliche Perspektiven und unterschiedliche Biografien gibt, die zu unterschiedlichen Zugriffen auf Wirklichkeit führen können. 

Es ist zunächst ein emanzipatorischer Fortschritt, dass individuelle Perspektiven und ihre Geschichte als relevant anerkannt werden. Aber in dem Moment, in dem diese relativierende Vielfalt politisch strategisch genutzt wird und sich überdies mit Narzissmus und Beliebigkeit verbindet, wird es gefährlich. Dann hat zwar jeder und jede Einzelne einen eigenen Zugriff auf die Wirklichkeit, aber es fehlt die gemeinsame Kraft, diese Vielfalt unterschiedlicher Perspektiven so zueinander in Beziehung zu setzen, dass unsere Gesellschaft erkenntnis- und handlungsfähig bleibt. Eine aufklärerische Praxis verkehrt sich dann in ihr Gegenteil, wenn sie – im Moment ihrer potenziell vollständigen Verwirklichung – in die falschen Hände gerät und strategisch instrumentalisiert wird. Dann kommen Leute wie der ehemalige Trump-Berater Steve Bannon auf den Platz, die eine neue strategische Losung ausgeben: „Let’s flood the zone with shit“ – lasst uns die Zahl der möglichen Sichtweisen so sehr erhöhen, dass keiner mehr irgendwas sieht oder gar glaubt!  

Die Freiheit der individuellen Behauptung ist schließlich durch die digitalen Möglichkeiten ins Unermessliche gestiegen. Und es gelingt immer seltener, aus dieser wahrnehmbaren Vielheit der individuellen Stimmen die Vernunft einer modernen Gesellschaft herauszuhören oder zu destillieren. Das hat zur Folge, dass die unterschiedlichen Konstruktionen der Wirklichkeit nur noch ratlos, gleichgültig oder aggressiv nebeneinander vertreten werden. Und die Chance steigt, dass sich bloß noch die lauteste und vehementeste Behauptung durchsetzt, wenn in der Flut der Äußerungen das vernünftige Gespräch nicht mehr organisierbar ist. In dem Song Alle reden durcheinander singt der Liedermacher Danny Dziuk: „Grabenkämpfe / und du weißt nicht wie / Doch plötzlich findest du dich sonderbar / Verwundert auf ‘ner Seite wieder, die / Niemals deine eigene war / Wo jeder schreit ‚Auf welcher Seite stehst du?’ / Und alle reden durcheinander / Und keiner hört zu”.  

Die Schilderung klingt vertraut. Jeder steht gerne auf der richtigen Seite. Nur leider wissen die meisten derzeit oft nicht, welche Seite das ist. Und das scheint viele zu nerven. Wer auf andere Meinungen stößt, die nicht gefallen, die aufregen und zum Widerspruch anstacheln, reagiert zunehmend weniger damit, dass er sich interessiert, dass er widerspricht und dass er sich in der Sache auseinandersetzt. Und natürlich hört kaum jemand überhaupt zu, was geantwortet wird, wenn eine Position hinterfragt wird. Sondern alle fangen beinahe sofort an, sich zu empören. Dann geht es um Meinungsfreiheit oder verletzte Gefühle. „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen“ versus „Macht mal Platz, ihr alten weißen Männer.“ Dieses Durcheinander hilft jenen, die das Chaos wollen, um sich dann als neuerlich ordnende Kraft zu inszenieren. Das Muster ist fast immer dasselbe: Zunächst werden zu viele Regeln beklagt, die die eigene Freiheit über Gebühr einzuschränken scheinen. Gesellschaft und Staat sind schuld daran, dass man nicht frei leben könne. „Die da oben“ müssen weg.  

Die dahinterliegende Denkfigur ist recht schlicht und an einem Beispiel zu erklären, das mir ein Freund vor einiger Zeit erzählte. Es ging um eine Begegnung, die er in den USA mit einem Professor hatte. Der erklärte ihm, warum die USA auf dem Weg in die Diktatur seien: Er zeichnete eine Linie auf ein Blatt Papier, zeigte auf das eine Ende und sagte: „Dort ist Freiheit, das heißt: keine Gesetze. In den letzten zweihundert Jahren gab es immer mehr Politiker, die immer mehr Gesetze erlassen haben.“ Dann zeigte er auf das andere Ende der Linie und meinte: „Alles ist gesetzlich geregelt, das ist Diktatur. Und wir sind definitiv eher an diesem Ende als am anderen.“  

Diese Art des Denkens ist inzwischen auch in der Bundesrepublik angekommen, wenn man sich anschaut, was auch hier alles als Einschränkung der Freiheit betrachtet wird: das Tragen einer Maske während der Pandemie, ein Tempolimit auf Autobahnen, ein vegetarischer Tag in der Kantine, die Pflicht zur Steuererklärung, der Appell zu einem maßvollen Ressourcenverbrauch und nicht zuletzt die Achtung vor Anderen beim Sprechen und Formulieren. Allzeit empörungsbereit werden Vorschläge für gemeinsame Regeln eines solidarischen Umgangs kategorisch abgelehnt und vor allem auf digitalen Plattformen wüst diffamiert. Die Folge ist eine merkwürdige Mischung von übersteigerten Freiheitsansprüchen einerseits und dem Wunsch, selbst für Klarheit und Ordnung sorgen zu können, andererseits. Der Soziologe Oliver Nachtwey und die Literatursoziologin Carolin Amlinger nennen das „libertären Autoritarismus“. Bei Querdenker-Demos, bei Protesten gegen die Migrationspolitik oder im Diskurs über vermeintliche Grenzen des Sagbaren wird von immer mehr Menschen der moderne Gesellschaftsvertrag quasi aufgekündigt, um zu einem Naturzustand absoluter individueller Freiheit zurückzukehren.  

Es ist, wie auch Kakutani mit Blick auf Trump feststellt: Wer die eigene Freiheit so absolut setzt, will offenbar gegen die Lebensumstände einer modernen Gesellschaft protestieren – paradoxerweise „aber im Namen ihrer zentralen Normen: Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung“ (Amlinger/Nachtwey). Man fühlt sich sozial bedrängt von einer komplexen Wirklichkeit, sucht nach Eindeutigkeit und glaubt, diese nur noch dann gewährleisten zu können, wenn man selbst entscheiden kann, was richtig und was falsch, was wahr und was unwahr ist. Das setzt man dann absolut und verteidigt es mit hohem moralischem Anspruch und ohne jegliche Ambiguitätstoleranz gegen alle anderen Ansichten. Dass die Wirklichkeit komplex ist, wird dann fast zur beleidigenden Herausforderung. Die flüchtige Wahrheit soll festgehalten werden – aber eben nicht mehr gemeinsam, sondern allein und nach eigenem Gusto. Selbstbestimmung und Eigenverantwortung – die Versprechen einer offenen Gesellschaft – sollen ohne die Gesellschaft erreicht werden, mit der sie doch so eng verbunden sind.  

Hier taucht die Idee wieder auf, dass es gut und richtig ist, selbst die eigene Geschichte schreiben zu können. Aber zugleich ist die Einsicht verloren gegangen, dass niemand das allein schaffen kann, sondern dass jeder andere Menschen braucht – und sei es nur als Zuhörende, denen er die eigene Geschichte erzählen kann, um sie auf Wahrheit und Plausibilität zu prüfen.  Ein Netz, in dem sich die flüchtigen Wahrheiten vielleicht für einen Moment verheddern und aufhalten lassen können, lässt sich schließlich nur gemeinsam festhalten. Entfalten kann es sich nur in dem Raum, der zwischen unterschiedlichen Standpunkten entsteht. Deshalb ist es so wichtig, unterschiedliche Standpunkte zunächst als gleichberechtigt anzuerkennen. Zwischenmenschlicher Respekt ist Grundlage des Zusammenhalts einer vielfältigen Gesellschaft. Und dieser Respekt scheint nicht für alle spürbar zu sein.  

Viele Menschen aus Ostdeutschland beklagen bis heute einen stark westdeutsch geprägten Blick auf ihre Lebensrealität. Der Germanist Dirk Oschmann spitzt das so weit zu, dass er sagt, „der Osten“ sei ein westdeutsches Konstrukt. Ich muss gestehen, dass ich mit seiner Polemik immer noch hadere und vermute, dass er das bei Lesern wie mir auch auslösen wollte. Aber ich weiß nicht so recht, was ich damit anfangen soll, wenn sich Oschmann darüber aufregt, dass die Wochenzeitung Die Zeit einen Regionalteil Zeit im Osten hat, der nur in den ostdeutschen Ländern erscheint. Auf Papier zumindest, digital ist er überall verfügbar. Was sagt mir die Empörung, wenn ich weiß, dass es auch eine Zeit Hamburg gibt, die der gleichen Publikationslogik folgt?  

Natürlich geht es Oschmann darum, dem Westen vorzuführen, wie es ist, wenn man von außen – und vielleicht auch unzutreffend – beschrieben wird. Und er reklamiert damit auch, wie wichtig es ist, Autor seiner eigenen Geschichte sein zu können. Das verstehe ich. Mir geht es mit meiner Ruhrgebietsheimat ganz genauso. Aber ich würde schon gerne mit ihm diskutieren, wer welchen Anteil an den entstandenen Bildern und Erzählungen hat. Und ich würde mit ihm gerne das tiefe Gefühl der Enttäuschung teilen, dass ich 15-jährig tief im Westen gespürt habe, als sich die Bürgerinnen und Bürger der DDR im Frühjahr 1990 faktisch mehrheitlich für die D-Mark und gegen eine neue gemeinsame Verfassung nach Artikel 146 des Grundgesetzes entschieden haben. Und wie es sich anfühlte, als aus den tollen und selbstermächtigenden Plakaten mit der Aufschrift „Wir sind das Volk“ plötzlich das nationale „Wir sind ein Volk“ wurde.  

Viele, mich eingeschlossen, hatten damals gehofft, dass über die Idee der Volkssouveränität, die hinter dem Anspruch „Wir sind das Volk“ so machtvoll stand, im ganzen Land gemeinsam gesprochen würde. Die allermeisten wollten die Einheit, aber eben auf Augenhöhe als Ergebnis eines gemeinsamen Prozesses. Doch Helmut Kohl wusste das mit dem Versprechen der Währungsunion schnell zunichtezumachen. Und das wirkte. Die Abstimmung erfolgte mit den Füßen und der Beitritt nach Artikel 23 war ausgemachte Sache. Wenn die Tagesthemen-Moderatorin Jessy Wellmer heute „eine Art zweite Vereinigung“ fordert, die sich heute vor allem auf ein tieferes wechselseitiges Interesse und Verständnis beziehen kann, dann ist das auch eine praktische Antwort auf die gemeinsamen Versäumnisse seit 1989/1990. Die in Güstrow geborene Journalistin hat gerade das Buch Die neue Entfremdung. Warum Ost- und Westdeutschland auseinanderdriften und was wir dagegen tun können veröffentlicht. Sie will darin dazu beitragen, „dass die Menschen etwas runterfahren und miteinander reden. Und vielleicht auch mal kurz innehalten und sagen: Ach ja, so war das? Oder auch: Echt? Das wusste ich gar nicht.“  

Ich verstehe diesen Impuls. Aber den Wunsch, dass das noch etwas bewirken könnte, scheinen andere schon längst nicht mehr zu haben, sondern konzentrieren sich auf die Beschreibung der vielerorts tatsächlich erdrückend hegemonialen Stellung des Westens. Das führt dann aber leider auch dazu, dass gar nicht mehr darüber gesprochen werden kann, wie sich gesamtdeutsche öffentliche Institutionen wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk so neu definieren und füllen lassen, dass sie auch gesamtdeutsch akzeptiert werden können. Stattdessen verheddert man sich in mal mehr und mal weniger geschliffen vorgetragenen Anklagen und Schuldfragen. Das in Oschmanns Polemik angestrebte und tatsächlich produktive Gefühl des Ertapptwerdens beim allzu hemmungslosen Beschreiben von außen, stellte sich bei mir deshalb eher ein, als ich Gregor Sanders Lenin auf Schalke gelesen habe.  

Darin ist er als Ostdeutscher in meine Heimatstadt Gelsenkirchen gereist – „auf der Suche nach dem Osten im Westen“, wie es im Untertitel heißt. Mit wachsendem Erstaunen schreibt er über die dortige Kultur und ihren Alltag. „Die sind in allen Statistiken führend. Also, von hinten. Ärmste Stadt Deutschlands, höchste Arbeitslosigkeit, geringstes Pro-Kopf-Einkommen“, heißt es an einer Stelle. „Duisburg ist übrigens auf Platz zwei im Armutsranking und dann kommen erst unsere Klassiker. Cottbus, Frankfurt/Oder, Halle und so.“ Lustvoll karikiert er den beinahe ethnologischen oder gar zoologischen Blick, den manch westdeutscher Beobachter seit Jahrzehnten eingeübt hat, wenn er über „den Osten“ spricht, und demaskiert diese das Trennende betonende Haltung. Das Buch endet mit einer mehr als galligen Bemerkung, die aber dennoch zeigt, wie Gemeinsamkeit wachsen könnte: „Und den nächsten Westdeutschen, der uns fragt, wo wir den Tag des Mauerfalls verbracht haben, der sich wärmen will am Lagerfeuer unserer Erinnerung und nichts wissen will vom Davor und Danach, den fragen wir: Und wo warst du, als in Gelsenkirchen die Lichter ausgingen? In der Stadt, die die Kohle geliefert hat für den Reichtum zwischen Hamburg und München?“  

In solch bitteren Reflexionen liegt eine Möglichkeit, Mitleiden – und damit Solidarität – zu lernen. Oder nehmen Sie Kurt Drawerts luzide Reflexion Dresden: Die zweite Zeit, in der der Autor, nach Jahren in Darmstadt als Stadtschreiber in seine Heimatstadt zurückkehrt und versucht, das Phänomen Pegida zu verstehen. Die Vielheit seiner perspektivischen Optionen bricht seinen Blick wie ein Prisma. Solche Versuche brauchen wir, weil sie die Standortgebundenheit des Urteils nicht bloß markieren, sondern zugleich auch jeweils absolut daherkommende Wahrheitsansprüche gekonnt verflüssigen und sie nicht bloß durch andere gewollte Wahrheiten ersetzen. Die Dinge sind eben uneindeutig. Und das ist gar nichts Schlimmes, wenn man bereit ist, sich überraschen zu lassen. Und neugierig darauf bleibt, was andere denn nun meinen. 

Anhand eines Songs der Platte 4630 Bochum lässt sich das gut zeigen. Jetzt oder nie jedenfalls klingt heute anders als vor 40 Jahren. Dort heißt es unter anderem: „Kämpfen für ein Land / Wo jeder noch reden kann / Herausschreien, was ihm weh tut / Wer ewig schluckt, stirbt von innen / Jetzt oder nie / Jetzt oder nie mehr / Jetzt oder nie / Wascht ihr nur eure Autos Es tut so gut / Wenn dir die Seele brennt / Du auf die Straße rennst / Und du zeigst, es geht dir nicht gut / Dass dir der Kopf zerspringt / Und du weißt, dass du was tun musst Wir werden dosiert zensiert / Menschen achtlos diffamiert / Wie eine träge Herde Kühe / Schauen wir kurz auf und grasen dann gemütlich weiter Das Fernsehen redet uns tot / Pflanzen sterben an Atemnot / Wir warten immer zu lange / Die Zeit rennt weg / Wir müssen's angehen / Jetzt oder nie“  

Das klingt ohne Kontext heute wie ein Aufruf zu jenen Spaziergängen oder Montagsdemonstrationen, auf denen mittlerweile die Demokratie diffamiert wird. Dabei war es damals ein Protest gegen eine Gesellschaft, die unpolitisch in das postmoderne Vergnügen taumelte und in der die Null-Bock-Generation aus ihrer Lethargie gerüttelt werden sollte. Es war die Zeit, in der Ronald Reagan und Margret Thatcher die kapitalistische Wirtschaft neoliberal umbauten, Helmut Kohl eine geistig-moralische Wende ausgerufen hatte und die Stationierung weiterer Atomwaffen in Deutschland diskutiert wurde. Sich da nicht bloß ums eigene Auto zu kümmern, war eine plausible Aufforderung. Das Lied sollte damals dazu drängen, gemeinsam die Demokratie zu sichern und die gemeinsam gelebten Freiheiten zu verteidigen. „Wo jeder noch reden kann“, meint hier eben auch jeden. Das ist der entscheidende Unterschied zu den heutigen Protesten von rechts, die in ihrer Menschen- und Vernunftverachtung auch übersehen, dass es das gemeinsame Einstehen für individuelle Freiheiten braucht. Dass Solidarität nicht mehr nur aus der Ähnlichkeit der Erfahrungen oder Umstände wächst, sondern auch aus deren Vielfalt und Unterschiedlichkeit heraus. Dass wir nur gemeinsam einen öffentlichen und demokratischen Raum sichern können, in dem wir ohne Angst verschiedener Meinung sein können.  

Viele, die da gerade Freiheit für ihre Meinung einfordern, wollen zugleich ein Gesellschaftssystem, das ihnen die Freiheit vollständig nehmen würde. Seien sie nun Putin-Freunde, Faschisten oder Fundamentalisten – immer geht es um die Freiheit, etwas gut zu finden, was die Freiheit ultimativ abschaffen will. Deshalb ist es so wichtig, wachsam zu bleiben. Ein solches Lied, seine Begriffe und seine Gedankenwelt, darf, genauso wenig wie die alte Freiheitshymne Die Gedanken sind frei, den rechten Freiheitsverächtern in die Hände fallen. Wer die Demokratie sichern will in einer Zeit, in der eben nur das Gültigkeit hat, worauf sich alle verständigen können, der muss sich aufraffen, um für die Deutungshoheit öffentlich zu kämpfen. Und damit bin ich bei dem Mechanismus, mit dem es gelingen kann, aus flüchtigen Wahrheiten zumindest für den jeweiligen Augenblick das Fundament des gesellschaftlichen Miteinanders zu machen:  der Vernunft der öffentlichen Debatte. Sie liegt in der Vielheit ihrer Stimmen und zeigt sich Hannah Arendt zufolge immer dann, wenn im gesellschaftlichen Gespräch um die besseren Ideen gerungen wird.  

Dass ausgerechnet eine Lesung von Texten der jüdischen Denkerin in Berlin im Februar aufgrund antisemitischer Störungen abgebrochen werden musste, zeigt, wie weit unsere Gesellschaft noch davon entfernt ist, diesen Anspruch einzulösen. Aber anders geht es nicht. Die Vernunft der öffentlichen Debatte setzt voraus, sich selbst ernst zu nehmen und die jeweils eingebrachten Argumente als wahr, richtig und wahrhaftig begründen zu können, damit genau diese Ansprüche im Zweifel gemeinsam im Diskurs geklärt werden können. Nur in wenigen Grenzbereichen geht es auch darum, dass etwas inhaltlich nicht gesagt werden darf: etwa, wenn es jemand anderes verleumdet oder wenn das Menschheitsverbrechen der Shoah geleugnet wird. Aber abgesehen davon soll jeder erst einmal alles sagen dürfen, damit dann gemeinsam herausgefunden werden kann, ob es auch als richtig und wahr akzeptiert werden kann. Flüchtige Wahrheiten fordern schließlich dazu heraus, sie zu bewerten. Es ist diese öffentliche Kommunikation, um die wir uns heute kümmern müssen, wenn uns die Demokratie lieb ist. In ihr können die flüchtigen Wahrheiten mehr Festigkeit und Wirkung entwickeln.  

Intuitiv habe ich das während einer Lesung aus Werken von Kurt Tucholsky als Jugendlicher begriffen. Besonders ein Text hallte nach: Wo kommen die Löcher im Käse her? Das irrwitzige Protokoll einer aus dem Ruder laufenden Familiendiskussion. Der kleine Oskar stellt die Frage, die alles ins Rollen bringt: „Wo kommen die Löcher im Käse her?“ Der Vater versucht mit Geschichten aus den Schweizer Bergen von Unwissen und Unlust abzulenken, der Onkel schiebt’s auf die Feuchtigkeit, ein Dritter auf das angebliche „Kaseïn“ im Käse, der nächste auf Ausdehnung in Folge von Wärme, ein weiterer Onkel auf das Zusammenziehen in Folge von Kälte, und ein Direktor, der ebenfalls zu Gast ist, doziert, es handele sich um Zerfallsprodukte beim Gärungsprozess. Erst als all diese Mutmaßungen im Raum stehen, alle genervt sind und der kleine Oskar verwirrt ist, kommt man auf die Idee, ins Lexikon zu gucken. Dort wird die „Kohlensäurestoffentwicklung aus dem Zucker der eingeschossenen Molke“ verantwortlich gemacht. Prompt behaupten alle, das doch gesagt zu haben. Und der Streit bricht richtig los. Am Ende bilanziert Tucholsky Klagen und eine zerrüttete Familie. Nur Oskar hat immer noch keine Antwort. „Auf dem Schauplatz bleiben zurück ein trauriger Emmentaler und ein kleiner Junge, der die dicken Arme zum Himmel hebt und, den Kosmos anklagend, weithin hallend ruft: ‚Mama! Wo kommen die Löcher im Käse her?‘“ 

Das Ganze ist ein galliger Kommentar zum Zustand der Debatten in den zwanziger Jahren. Heute erinnert der Text an manchen Kommentar-Thread in den sozialen Medien: haufenweise Theorien, gegenseitige Diffamierungen, absolute Wahrheitsansprüche und der feste Wille, sich bloß nicht an Fakten zu orientieren.  Aber aus den Texten Tucholskys leuchtete damals für mich trotz allem eine unglaubliche Zuversicht. Schließlich ging es immer auch darum, dass das öffentliche Wort, die gelungene Pointe, die eindrückliche Geschichte, etwas bewirken können. Wenn nur ein Richter ein Todesurteil nicht spräche, weil er einen Text von ihm gelesen habe, dann hätte es sich gelohnt, soll Tucholsky einmal gesagt haben. Und das war’s. Das traf einen Nerv, in aller Teenager-Romantik: nicht gleich die Verbesserung der Welt, sondern die kleine, humane Wirkung. Da war klar: Ich wollte Journalist werden.  

Einer meiner späteren akademischen Lehrer drückte mir dann im ersten Semester ein Referat über den Strukturwandel der Öffentlichkeit von Jürgen Habermas aufs Auge. Der Sozialphilosoph und Vordenker der Bundesrepublik beschreibt darin, wie sich die Idee eines spontanen Kommunikationszusammenhangs freier Bürgerinnen und Bürger in den aufklärerischen Kaffeehäusern und literarischen Salons bildete, wie sie dann zur festen Grundlage moderner Demokratien wurde und deshalb rechtlich und institutionell gesichert werden musste, nur um dadurch an Bedeutung und aufklärerischer Freiheit einzubüßen. Die damals, in den 1960er-Jahren, aktuelle massenmediale Öffentlichkeit, so Habermas, ähnele der mittelalterlichen Repräsentanz der Macht des Monarchen vor dem Volk, während der kritische Stachel bürgerlicher Diskussionen an Kraft und vor allem an Wahrnehmung verliere. Später relativierte Habermas diese düstere Prognose und beschrieb, wie Medien in außergewöhnlichen Situationen den Lauf der Dinge durchaus verändern können. Aber das Spannungsverhältnis zwischen der Idee des freien Diskurses und der „Vermachtung“ der Institutionen, die ihn gewährleisten sollen, bleibt virulent.  

Dass sich daran auch in den neuen, angeblich sozialen Medien nicht so viel ändert, hat Habermas jüngst dargestellt. Er beklagt, dass das emanzipatorische Versprechen öffentlicher Verständigung „zumindest partiell von den wüsten Geräuschen in fragmentierten, in sich selbst kreisenden Echoräumen übertönt“ werde. Und doch: Die grundlegende Idee, dass wir einander mit Argumenten überzeugen wollen, dass wir Ansprüche auf Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit wechselseitig anerkennen müssen, dass wir in Gesprächen fähig sind, Situationen einzuschätzen und Handlungen zu koordinieren – diese Idee fasziniert mich bis heute. Und sie hat etwas zutiefst Zuversichtliches an sich; ist ein Angebot, es zumindest immer wieder neu zu versuchen. 

Im Gespräch, so lässt es sich von Habermas lernen, wird Demokratie lebendig – im engeren Sinne auf der Suche nach allgemeinverbindlichen Entscheidungen, aber auch im weiteren Sinne mit Blick auf die Frage, welche gesellschaftlichen Bereiche denn überhaupt für alle und damit öffentlich koordiniert werden müssen. Dieser Gedanke hat viele Konsequenzen. Die vielleicht elementarste lautet, dass wir danach streben, einander als gleichrangig anzuerkennen. In der Folge hat schon die Art, in der wir miteinander sprechen, politische Auswirkungen, weil sie prägt, wie wir uns begegnen und welchen sozialen Raum wir gemeinsam gestalten. Natürlich ist das auch eine romantisch wirkende Vorstellung davon, was Kommunikation tatsächlich leisten kann. Und ich verbinde das Bewusstsein für die eigentümliche Kraft des Sprechens wohl für immer auch mit einem romantischen Filmerlebnis, das so gar nichts mit Politik, mit Ost oder West, Wahrheit oder Vernunft zu tun hat.  Aber eben alles mit den Kräften, die ein Gespräch entfesseln kann.  

Als ich Richard Linklaters Film Before Sunrise von 1995 das erste Mal sah, war ich wie gebannt. Die leise Geschichte der zufälligen Bekanntschaft der Französin Celine und des Amerikaners Jesse ist so zärtlich und zwingend, dass sie weit über den Abend hinaus fortwirkte. Julie Delpy und Ethan Hawke spielen ein junges Paar, das sich im Zug trifft, gemeinsam in Wien aussteigt, um dort einen Tag und eine Nacht zu verbringen, bevor Jesses Flug zurück in die USA gehen wird. Die beiden stecken die anderthalb Stunden Film dauerhaft in einem Gespräch. Mal albern, mal tiefgründig, mal romantisch, mal spielerisch, mal voller Ernst sind sie durch Wien unterwegs, doch die Stadt oder andere Menschen spielen bloß Nebenrollen oder liefern Gesprächsstoff. Erst wenn im Film all die Orte zum Abschluss noch einmal menschenleer und bei Tageslicht gezeigt werden, wird deutlich, wie sehr sie erst durch die Kommunikation der beiden beseelt wurden, wie sehr eine Situation eben erst durch gemeinsame Ausdeutung zu dem wird, als dass sie in Erinnerung bleibt.  

Das Zwiegespräch in Before Sunrise, in dem sich zwei Menschen umkreisen und aufeinander zubewegen, fühlte sich schon beim ersten Sehen nach so viel mehr an. Die wenigen Momente, in denen die beiden schweigen – in einer Hörkabine eines Schallplattenladens, in der Gondel des Riesenrades oder nach der Trennung am Ende –, machen bewusst, wie wichtig das Gespräch ist, um sie überhaupt in diese Situation und in diese Beziehung zueinander zu bringen. Gerade weil vieles so ziellos und assoziativ scheint, legt es ein soziales Fundament, das es auch aushält, sich am Ende bloß zu versprechen, sich in sechs Monaten genau hier wieder zu treffen und das Gespräch fortzusetzen. Und tatsächlich hat Richard Linklater mit Ethan Hawke und Julie Delpy Jahre später noch zwei weitere, ähnlich berührende Filme gedreht, die die Geschichte weitererzählen und erneut ohne die Gespräche ebenso in sich zusammenfallen würden. Aber es war eben diese erste Begegnung mit Jesse und Celine in Before Sunrise, die mir die Bedeutung zwischenmenschlicher Kommunikation so deutlich vor Augen geführt hat, wie damals kaum etwas anderes. Sich aufeinander beziehen, einander widersprechen, nachfragen, einen Gedanken weiterspinnen – all das ermöglicht es den beiden, zueinander zu kommen.  

Das Bewusstsein für diese Kraft ist universeller, als wir uns manchmal eingestehen wollen. In dem wunderbaren Liebeslied Für dich da singt Herbert Grönemeyer: „Ich bin für dich da / Egal, wie's dir geht / Ich bin für dich da / Auch wenn die Welt durchdreht / Ich bin für dich da / Wann immer du willst / Ich bin für dich da / Ich lieb' dich, was kann ich noch für dich tun?“ Ich finde, dass unsere Gesellschaft mit dieser Haltung auf der Suche nach Freiheit und Solidarität, nach Gerechtigkeit und Wahrheit ganz schön weit kommen könnte. Denn immerhin aneinander können sich die Menschen in diesen flüchtigen Zeiten noch festhalten. Erst wenn Menschen miteinander sprechen, lernen sie einander kennen und bauen eine Beziehung auf, die Solidarität oder Liebe oder gemeinsame Wahrheitssuche ermöglicht. Und das gilt im romantischen Zwiegespräch genauso wie im öffentlichen Zeitgespräch. So habe ich im Ruhrgebiet Miteinander und Politik gelernt – und ich bin überzeugt, dass diese Regeln unabhängig vom Ort der Herkunft und der Sozialisation gültig sind. Denn es geht beim Sprechen nicht bloß um den verbalen Tanz zweier Menschen. Es geht darum, dass ein sozialer Raum zwischen ihnen entsteht, ein Raum, in dem Ansprüche auf Wahrheit, Richtigkeit oder Wahrhaftigkeit diskutiert werden können. Doch dieser Zusammenhang ist nicht zwingend eine Verheißung. Die Idee des öffentlichen Sprechens und Handelns erzeugt bei vielen nicht erst in Zeiten überhitzter Social-Media-Kommunikation gemischte Gefühle. Einerseits fasziniert die Möglichkeit, sich mit anderen über Vorstellungen vom Zusammenleben, vom Richtigen und vom Falschen auseinanderzusetzen. Andererseits aber haben viele zu Recht einen enormen Respekt davor, in solchen öffentlichen Situationen beobachtet von anderen, Unsinn zu erzählen oder Fehler zu machen. Öffentlichkeit kann schließlich immer beides sein: friedliches Forum und aggressive Arena. Wir haben es als Gesellschaft in der Hand, wie wir sie nutzen wollen.  

Das öffentliche Sprechen an sich ist ein demokratischer Akt und nicht bloß die Teilnahme an irgendeinem Gedankenaustausch. Deshalb brauchen die Fragen nach den Bedingungen und den Inhalten öffentlicher Gespräche auch keine spezielle Expertise, sondern werden von Bürgerinnen und Bürgern beantwortet. Wer die Möglichkeiten der Öffentlichkeit bewusst nutzt, verabredet sich nicht bloß zum gemeinsamen Handeln, sondern hat damit bereits begonnen. Die Demokratie kommt schließlich schon in der alten griechischen Vorstellung im Austausch auf dem Forum zu sich. Weil das so ist, kann jede Teilnahme am öffentlichen Gespräch auch dessen Charakter verändern. Sprechen und Handeln sind miteinander verwoben, weil beim Sprechen eben nicht nur Information von A nach B transportiert, sondern eine soziale Beziehung aufgebaut wird, weil sich die Sprechenden zwangsläufig aufeinander beziehen. Das ist die Keimzelle jeder Gesellschaft. Das ist der Beginn des Politischen. Das ist der Ausgangspunkt jeder Wahrheitssuche. Und je nachdem, wie Menschen in diesem kleinstmöglichen Forum handeln, gestalten sie auch den großen Zusammenhang.  

Seit einigen Jahren singt Herbert Grönemeyer bei seinen Konzerten manchmal eine weitere Strophe des Liedes Bochum, die es in meiner Jugend noch nicht gab. Als die Platte 2014 30 Jahre alt wurde, hatte eine Lokalzeitung in Bochum ihre Leserinnen und Leser aufgefordert, weitere Strophen zu dichten. Über 700 kamen zusammen, aus denen eine Jury die 30 besten auswählte. Aus ihnen wiederum entschied sich Herbert Grönemeyer dann für die Zeilen, die die Arzthelferin Ursula Tharr eingereicht hatte. Vor Zehntausenden sang er wenig später im Bochumer Ruhrstadion die neue Strophe: „Du hast den Ruß abgewaschen / Und deine Öfen sind kalt / Doch deine Zechen sind voll Leben / Hier wird getanzt, gelacht / Das Morgen ausgedacht / Gefördert wird, was lebt“.  

Das Lied werde dadurch „wärmer, zärtlicher“, sagt der Sänger, der die neue Strophe als vorletzte einfügte. Und tatsächlich geben die zusätzlichen Zeilen dem Lied einen neuen Sound und eine reifere Dimension. Denn darum geht es doch: Aus dem Alten etwas Neues wachsen zu lassen, die Zukunft zunächst einmal zu denken und das Leben zu fördern. Was denn auch sonst? Das ist es doch übrigens auch, was die Kunst zu einer zweiten Quelle der Zuversicht neben dem gesellschaftlichen Gespräch machen kann. So wie ich durch Before Sunrise noch einmal völlig neu gespürt habe, welche Kraft und welchen Sog ein Gespräch entfalten kann, so erleben wir doch alle im Theater, im Kino, im Konzert oder auch nur mit dem Kopfhörer auf den Ohren, welche Welten Menschen erschaffen können, wenn sie sich darauf einlassen, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. In Theatern wird die Welt doch nicht nur dann verändert, wenn in ihnen Nationalversammlungen neue Verfassungen schreiben, sondern schon dann, wenn in ihnen ein Mensch sitzt, der spürt, dass auf der Bühne eine veränderbare Welt gespielt wird und der deshalb den Saal verlässt mit der Zuversicht, dass das dann auch da draußen, im echten Leben, möglich ist. Gelingen kann die Veränderung aber nur, wenn er andere findet, die mitmachen. Und wenn sie als Bürgerinnen und Bürger gemeinsam erkennen, dass ihre Schicksale nicht nur an einen Standort gebunden sind, sondern aus den unterschiedlichsten Gründen auch an den unterschiedlichsten Orten geschehen und sich ähneln können. Das aber finden sie erst heraus, wenn sie sich das erzählen, wenn sie zuhören und versuchen, auch die Lebenswahrheiten der anderen nachvollziehen zu können.   

Das zu versuchen, ist der Ausgangspunkt für einen gemeinsamen Weg in die Zukunft, der zu einer Gesellschaft führen kann, in der alle weiterhin frei und demokratisch, vielfältig und ohne Angst respektvoll zusammenleben werden. Eine Zukunft, in der die klassische Tradition Weimars und die montanindustrielle Geschichte Gelsenkirchens wechselseitigen Respekt stiften können. Mit Grönemeyer ließe sich sagen: Natürlich, wir „haben’s schwer“, aber wir „nehmen’s leicht“ – oder versuchen es zumindest. Wenn wir das nicht nur nicht vergessen, sondern einander unsere Verschiedenheit im Großen wie im Kleinen wechselseitig auch zugestehen und als Bereicherung begreifen, gewinnen wir die Kraft, immer wieder aufs Neue auch etwas Gemeinsames zu entwickeln und ein paar flüchtige Wahrheiten gemeinsam festzuhalten. Denn die Vernunft liegt nun einmal in der Vielheit ihrer Stimmen. Sie lässt sich im Gespräch entdecken. Das ist die vielleicht praktischste Form, das Leben zu fördern. 

Zur Person

Carsten Brosda ist Senator für Kultur und Medien in Hamburg und Präsident des Deutschen Bühnenvereins. 2023 ist sein Buch MEHR ZUVERSICHT WAGEN bei Hoffmann und Campe erschienen. Darin stellt der gelernte Journalist anhand von Beispielen aus Pop- und Hochkultur dar, dass heute nichts mehr bloß deshalb gilt, weil es gestern auch schon galt. Darüber sprach er auch bei den diesjährigen WEIMARER REDEN. (Foto: Hernandez für Behörde für Kultur und Medien)

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