Brauchen wir mehr Kontrolle in den sozialen Netzwerken? 

Text von

Albert Wenger, Managing Partner at Union Square Ventures LINKEDIN

Artwork von

Sofia Apunnikova, Senior Creative LOOPING ONE LINKEDIN
24.10.2024 5 MINUTEN

  • Die Debatte um die Regulierung sozialer Netzwerke gewinnt zunehmend an Bedeutung.

  • Politiker und Regierungen nutzen Social Media, um die Kontrolle über ihr Narrativ zurückzugewinnen, während Betreiber von Plattformen ihre Gewinne maximieren wollen und sich gleichzeitig vor rechtlichen Konsequenzen schützen möchten.

  • Doch wer hat ein echtes Interesse daran, soziale Netzwerke zu regulieren? Und wieviel Moderation ist wirklich notwendig?

  • Meinungsfreiheit ist ein fundamentales Menschenrecht! Doch sie ist nicht grenzenlos. Um eine funktionierende Gesellschaft zu gewährleisten, sind klare Regeln nötig, um Chaos zu vermeiden und die Rechte eines jeden Einzelnen zu schützen.

  • Dezentrale Werkzeuge wie „Community Notes“ könnten ein adäquates Tool bieten, um Inhalte in sozialen Medien angemessen zu kontrollieren.

Im August dieses Jahres wurde Pavel Durov, Mitbegründer und CEO des Messenger-Dienstes Telegram in Paris verhaftet. Die französischen Behörden warfen dem 39-Jährigen vor, zu wenig gegen angeblich illegale Aktivitäten auf seiner Online-Plattform getan und Moderationsanfragen der französischen Regierung ignoriert zu haben. Einen Monat später dann verbannte das Oberste Gericht in Brasilien X/Twitter vorrübergehend komplett aus dem südamerikanischen Land und berief sich ebenfalls auf ein Versagen des Kurznachrichtendienstes bei der Kontrolle seiner Inhalte.

Diese beiden Vorfälle werfen grundlegende Fragen auf: Wie viel Regulierung sollte es in sozialen Netzwerken geben? Welche effektiven Kontroll-Mechanismen gibt es? Und wer sollte letztlich für Inhalte haften?

Der Dialog darüber ist oft durch Eigeninteressen der Beteiligten gestört. So wollen Politiker und Regierungen vor allem die Kontrolle über das Narrativ zurückgewinnen. Wie Martin Gurri in Revolt of the Public so treffend analysiert hat, ärgern sie sich darüber, dass sie die Fähigkeit verloren haben, die öffentliche Meinung zu gestalten. Wie viele Eliten sind sie der Meinung, dass sie wissen, was richtig ist, und behandeln das Volk wie einen dummen „Korb voller bedauernswerter Menschen“.

Die Eigentümer der Plattformen hingegen wollen das Nutzererlebnis kontrollieren, ihre Gewinne maximieren und gleichzeitig vor Haftungsansprüchen geschützt werden. Dabei übersehen sie oft wie stark Trends, empfohlene Konten und algorithmische Zeitleisten/Feeds das Leben der Menschen und Gesellschaften beeinflussen können.

Der Dialog wird auch durch einen Mangel an Vorstellungskraft erschwert, die uns in schrittweisen Veränderungen gefangen hält. Zu viele Menschen scheinen zu glauben, dass der Status quo mehr oder weniger das Beste ist, was wir erreichen werden. Das hat dazu geführt, dass wir uns in einem Stellungskrieg der inkrementellen Vorschläge festgefahren haben. Große und mutige Vorschläge werden schnell als unrealistisch abgetan.

Meinungsfreiheit als grundlegendes Menschenrecht und als Instrument des Fortschritts

Und schließlich wird der Dialog durch eine tiefe Verunsicherung über die Meinungsfreiheit kompliziert. Diese entsteht da die Gründe für die Redefreiheit und ihre Auswirkungen auf den Einzelnen und die Gesellschaft - möglicherweise absichtlich - ignoriert werden.

Ich plädiere bei dieser Diskussion für einen grundsätzlichen Ansatz. Dabei können wir die Meinungsfreiheit als ein grundlegendes Menschenrecht betrachten: Ich bin ein Mensch, ich habe eine Stimme, daher habe ich das Recht zu sprechen.

Und wir können die Meinungsfreiheit als Instrument des Fortschritts ansehen. Mächtige Akteure, seien es Unternehmen oder Regierungen, haben oft ein Interesse daran, Veränderungen zu verhindern. Doch das Unterdrücken von Meinungen führt zu Stagnation und letztlich zum Niedergang.

Meinungsfreiheit hat aber auch Grenzen

Dennoch müssen wir erkennen, dass Meinungsfreiheit Grenzen hat. Die Gesellschaft darf nicht zulassen, dass dieses Menschenrecht dazu genutzt wird, um anderen zu schaden oder Chaos, wie unkontrollierte Kriminalität, massive Unruhen oder im Extremfall einen Bürgerkrieg, zu verursachen. Chaos behindert Progress, da es die physischen, sozialen und intellektuellen Mittel des Fortschritts zerstört.

Vor diesem Hintergrund suchen wir nach einer Politik der Kontrolle in sozialen Netzwerken, die sowohl die Meinungsfreiheit respektiert als auch ihre Grenzen anerkennt und dazu beiträgt, die Gesellschaft auf einem Fortschrittspfad zwischen Stillstand und Chaos zu halten. Meine eigenen Vorschläge sind mutig, weil ich nicht glaube, dass inkrementelle Änderungen ausreichen werden. 

Meine Ideen gelten für offene soziale Netzwerke wie X/Twitter. Ein halbgeschlossenes soziales Netzwerk, bei dem die meisten Aktivitäten in Gruppen stattfinden, die nur auf Einladung zugänglich sind, stellt zusätzliche Herausforderungen dar. Die Kommunikation in kleinen Gruppen ist einem privaten Gespräch näher als einer öffentlichen Rede. Deshalb müssen Netzwerke wie Telegram und WhatsApp separat betrachtet werden.

„Community Notes“ als Werkzeug zur Moderation in sozialen Netzwerken

Ein zentrales Ziel sollte sein, dass es für Plattform-Betreiber und auch für eine Regierung schwer sein muss, Nutzer vollständig aus sozialen Netzwerken zu verbieten. Dies wäre eine moderne Version der Ächtung, aber im Gegensatz zu einer Verbannung aus einer einzelnen Stadt schließt es potenziell jemanden aus dem globalen Diskurs aus. 

Ein mögliches Verbot eines Netzwerknutzers sollte nur auf richterliche Anordnung oder durch ein transparentes System wie „Community Notes“ möglich sein. Ein effektives „Proof of Humanity“-System könnte hier eine Basis bilden, um die Identität von Nutzern zu überprüfen.

Zudem müssen soziale Netzwerke den Nutzern umfassende Instrumente zur Kontrolle bieten. Vollständige API-Zugänge könnten dabei helfen, Identitäten zu verifizieren und die Urheberschaft von Inhalten zu bestätigen. Auch die Implementierung mindestens eines „Community Notes“-ähnlichen Systems sollte Priorität haben, um die Quelle und Qualität von Informationen sicherzustellen. 

Darüber hinaus dürfen keine Inhalte angezeigt werden, die über einen „Community Notes“-Prozess oder durch ein Gericht als rechtswidrig eingestuft wurden. Ein transparentes System sollte den Grund für die Löschung des betreffenden Inhalts anzeigen. So wird nachvollziehbar, ob die Entscheidung auf einem richterlichen Urteil oder anderer Kriterien basiert.

Soziale Netzwerke können für ihre eigenen Empfehlungen haftbar gemacht werden

Wie sieht es mit der Haftung aus? Betreiber sozialer Netzwerke sollten nicht für den Inhalt haftbar gemacht werden, solange sie den oben genannten Kriterien entsprechen. Allerdings sollten sie für ihre eigenen Empfehlungsalgorithmen, wie Trends, empfohlene Konten, algorithmische Feeds usw. rechtlich verantwortlich sein.

Bis vor kurzem behaupteten soziale Netzwerke erfolgreich vor Gericht, dass ihre Algorithmen durch Section 230 geschützt seien, was meiner Meinung nach eine zu weitgehende Auslegung des Gesetzes war. Es ist interessant, dass ein Gericht gerade entschieden hat, dass TikTok für Vorschläge haftbar ist, die sein Algorithmus einem jungen Mädchen unterbreitet hat und die zu ihrem Tod führten. 

Empfehlungsalgorithmen sollten so gestaltet werden, dass sie zur Meinungsvielfalt beitragen, anstatt Polarisierung zu fördern. Bei jeder Empfehlung sollten auch Gegenmeinungen sofort aufgezeigt werden. Ein solcher Ansatz könnte die Haftung für Netzwerkbetreiber reduzieren und gleichzeitig die Qualität der Informationen verbessern. 

Die Frage der Regulierung in sozialen Netzwerken ist von entscheidender Bedeutung, um den Fortschritt zu erhalten und gleichzeitig Chaos zu vermeiden. Für diejenigen, die die Entwicklung neuer dezentraler sozialer Netzwerke wie Farcaster und Nostr verfolgt haben, werden einige der oben genannten Ideen bekannt vorkommen. Die USA könnten, angesichts ihrer langen Geschichte umfassender Meinungsfreiheit, eine globale Führungsrolle übernehmen, indem sie innovative Ansätze zur Moderation und Regulierung sozialer Netzwerke entwickeln und umsetzen.

Zur Person

Albert Wenger ist geschäftsführender Gesellschafter bei Union Square Ventures (USV), einer in New York ansässigen Investitionsfirma, die sich auf frühe Investitionen in „disruptive Netzwerke“ konzentriert. Zu den USV-Portfoliounternehmen gehören: X/Twitter, Tumblr, Foursquare, Etsy, Kickstarter und Soundcloud. Bevor Wenger zu USV kam, verkaufte er ein Unternehmen an Yahoo. Der gebürtige Franke schloss sein Studium der Wirtschaftswissenschaften und Informatik am Harvard College mit summa cum laude ab und hält einen Doktortitel in Informationstechnologie vom MIT. Wenger lebt seit mehr als 30 Jahren in den USA. Seine Frau Susan Danziger ist Mitbegründerin der Videoplatform Ziggeo. Zusammen haben sie drei Kinder.

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