Tod und Trauer

in Dauerschleife

Warum Newsticker unser Gehirn krank machen und wie wir zu achtsameren Leser:innen werden

Text von Matthias Kohlmaier

Matthias Kohlmaier, Senior Editor LOOPING GROUP LINKEDIN

Illustration von

Franziska Stegemann, Designer LOOPING GROUP INSTAGRAM
12. Mai 2022 5 Minuten

In a nutshell:

  • Krieg, Hass, Hetze und eine schier endlose Pandemie. In der Redaktionellen Gesellschaft gibt es vor schlechten Nachrichten wie diesen kaum ein Entkommen.

  • Social-Media-Algorithmen und die Gier nach Klicks bringen das geballte Leid der Welt live auf unsere Bildschirme.

  • Die Neurowissenschaftlerin und Bestsellerautorin Maren Urner erklärt, wie wir uns und die Redaktionelle Gesellschaft besser schützen können.

424 Minuten, mehr als sieben Stunden. So lange konsumiert jede:r Deutsche ab 14 Jahren im Durchschnitt täglich Medien: Bewegtbild, Audio, Text. Anders gesagt: Unser Medienkonsum ist, quantitativ betrachtet, beinahe ein Vollzeitjob. Die „ARD/ZDF-Massenkommunikation Langzeitstudie“ gibt aber nicht nur diese Zahl an, sondern auch Gründe, aus denen wir das Smartphone zur Hand nehmen oder den Fernseher einschalten. Einer der wichtigsten: Informationsbeschaffung.

Die Informationen und Nachrichten, die uns seit Monaten und Jahren aufs Handy gepusht werden, sind allerdings nur in den seltensten Fällen freudig. In der Ukraine finden jeden Tag Menschen den Tod in einem Krieg, dessen Motive kaum jemand nachvollziehen kann. Die Corona-Fallzahlen gehen zwar zurück, dennoch sterben weiterhin zahlreiche Menschen an und mit dem Virus, jeden Tag. Und dann ist da noch die Inflation, die zwar noch nicht gallopiert, aber zumindest flott trabt, und die Preise für allerlei Dinge des täglichen Bedarfs steigen lässt.

Was macht dieser stetige Fluss schlechter Nachrichten mit uns?

Wie verändert er unsere Perspektive auf die Welt? Und sind wir überhaupt so gut informiert, wie wir sein könnten oder wollen? Selbst Maren Urner kann nicht all diese Fragen final beantworten, sie kann sie aber fundiert diskutieren. Die Neurowissenschaftlerin und Professorin für Medienpsychologie an der HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft beschäftigt sich seit 15 Jahren wissenschaftlich damit, wie Menschen Informationen verarbeiten. Ihre Bücher „Schluss mit dem täglichen Weltuntergang“ und „Raus aus der ewigen Dauerkrise“ sind Bestseller.

Nun, Frau Urner, was machen die schlechten Nachrichten in Dauerschleife mit den Rezipient:innen? „Sie lassen sie wütend und verängstigt zurück. Menschen sind allerdings nur dann handlungsfähig, wenn sie nicht in Angst und Schrecken versetzt werden.“ Das Problem, sagt die Forscherin, ist teilweise die Art der medialen Berichterstattung. Journalist:innen fokussierten sich zu sehr auf schlechte Neuigkeiten. Dazu komme, dass viele Menschen Nachrichten auf eine Art und Weise konsumierten, die ihnen körperlich schade.

Portrait of author Maren Urner.

Was machen schlechte Nachrichten mit dem Gehirn?

Die ständige Konfrontation mit Tod, Krankheit und Trauer versetzt das Gehirn in Dauerstress, der chronisch werden kann. Das kann zu Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Konzentrationsproblemen, Depressionen und noch gravierenderen Gebrechen führen. Dennoch, sagt Maren Urner, gönnten sich viele Menschen zu selten Auszeiten vom Nachrichtenkonsum. Dahinter stecke ein Irrglaube: „Viele meinen, je mehr Informationen sie konsumieren, umso besser sind sie auch informiert. Dieser Zusammenhang ist faktisch falsch.“

Ein zentraler Teil des Integrationsprozesses auf neuronaler Ebene besteht darin, dem Gehirn Zeit zu geben, Informationen zu sortieren und zu verarbeiten. Ausreichend Schlaf ist dafür essenziell, aber auch, Nachrichtenpausen einzulegen. Niemand würde auf die Idee kommen – angehende Marathonolympiasieger:innen ausgenommen – täglich 20 Kilometer zu laufen, wenn der Körper schmerzt und Ruhe braucht. Wer nicht ausreichend regeneriert und einfach weitertrainiert, wird sich über kurz oder lang verletzen. Beim Gehirn verhält es sich ähnlich.

Negativity bias: Warum sich schlechte Nachrichten so gut verbreiten

Der ständige mediale Fokus auf Dinge, die falsch laufen, hat nicht nur journalistische Hintergründe, denn: Schlechte Nachrichten erhalten mehr Aufmerksamkeit, werden häufiger angeklickt und führen zu höheren Einnahmen für Medienhäuser. Dem zugrunde liegt der sogenannte negativity bias oder Negativitätseffekt. Er beschreibt das sozialpsychologische Phänomen, wonach sich negative Erlebnisse psychisch stärker als neutrale oder positive auswirken. Menschen haben die Tendenz, erst einmal vom Schlechten auszugehen und ihre Aufmerksamkeit auf negativ bewertete Dinge zu richten.

Dass längst nicht mehr nur die Traditionsmedien für die Verbreitung von Nachrichten zuständig sind, macht diesen Effekt gefährlich. Wenn jede:r Nachrichtenmedium sein kann, verbreiten sich durch den negativity bias besonders Hass und Hetze rasend schnell – weil sie sich in unserem Gehirn stärker festsetzen als gute Neuigkeiten. Bedeutet etwa für die politische Kommunikation auch: Wer sich eine Armee digitaler Trolle leisten kann, die die sozialen Netzwerke mit Schund über die Gegenseite fluten, kann die öffentliche Meinung massiv beeinflussen.

Wie stark Menschen vom Schlechten ausgehen, zeigt der Ignoranz-Test des schwedischen Gesundheitsforschers Hans Rosling. Probanden sollen dafür Multiple-Choice-Fragen wie diese beantworten: „Im Jahr 1990 lebten 58 % der Weltbevölkerung in Ländern mit niedrigem Einkommen. Wie hoch ist der Anteil heute?“ Die Antwortmöglichkeiten lauten: 9, 37 und 61 Prozent. Aufgrund des negativity bias beantworten laut aktueller Auswertung des Online-Tests 93 Prozent der Teilnehmenden die Frage falsch. Korrekt ist: Heutzutage leben nur noch neun Prozent der Menschen in Ländern mit geringem Einkommen.

Abstract design of brain damage and negative news online in red and orange.

Illustration by Franzi Stegemann, Designer Looping Group

Neurowissenschaftlerin Maren Urner fordert die Medien daher auf, den Fokus mehr auf mögliche Lösungen zu richten und weniger auf die Probleme. Ein Beispiel sei die mediale Begleitung der Klimakrise. „Es gibt viele Lösungsvorschläge, Initiativen und Wissen sowohl technischer als auch wissenschaftlicher Natur auf der Welt, um das zu adressieren“, sagt die 38-Jährige. „Das wird in der Berichterstattung aber zu wenig abgebildet.“

Das Prinzip eines konstruktiven Journalismus hat Urner mit der 2016 von ihr mit gegründeten Publikation „Perspective Daily“ zu verwirklichen versucht. Die Leitfragen des Online-Magazins: Was passiert jetzt? Wie kann es weitergehen? Blick nach vorn, statt Blick nach unten sozusagen. Man habe „den Menschen wieder Spaß am Journalismus geben wollen“, sagt Urner heute.

Wie bewusster Nachrichtenkonsum funktionieren kann

Solange die mediale Wirklichkeit aber eher Probleme als Lösungen abbildet, liegt es weiterhin an der Medienkompetenz der Rezipient:innen, Informationen auf eine gesunde Weise zu konsumieren. Wissenschaftlerin Urner empfiehlt Entschleunigung: „Liveticker sind schrecklich für unser Gehirn und keine sinnvolle Art der Informationsbeschaffung.“ Wer minütlich Nachrichtenseiten aktualisiere, sei womöglich passabel informiert, hauptsächlich aber gestresst.

„Wir haben durch den technischen Fortschritt die Möglichkeit, sehr gut informiert zu sein. Niemand muss heute mehr einen halben Tag in die Bibliothek verbringen, um Kants Kategorischen Imperativ nachzuschlagen“, sagt sie. Wer ein Smartphone besitze, habe jederzeit Zugang zu weitaus mehr Informationen, als man zu Lebzeiten konsumieren könne. „Die Frage ist: Worauf konzentrieren wir uns und was hilft uns wirklich, die Welt besser zu verstehen?“

Die Antworten auf diese Frage sind sicher sehr subjektiv, für jede und jeden funktioniert eine individuelle Art des Nachrichtenkonsums. Ein paar Leitplanken aber gibt es sicherlich. Wer ein Thema aus möglichst vielen Perspektiven durchdringen will, muss sich Zeit dafür nehmen. Ein in Ruhe gehörter Podcast lohnt mehr als eine hektische Social-Media-Recherche. Die ARD-Tagesthemen bilden umfangreicher als das kurze Querlesen eines Zeitungsessays in der Kaffeepause. Wissen stressfrei zu erlangen braucht Zeit. 

Abstract design of brain damage and negative news online in red and orange.

Als Selbstschutz: blocken, entfolgen, ignorieren

Bleibt die Frage, was all diese Erkenntnisse für die Redaktionelle Gesellschaft bedeuten, in der jeder Mensch zugleich Sender und Empfänger ist. Eine Antwort lautet: Verantwortungsgefühl für sich selbst und für andere ist mehr denn je gefragt. Ein kluger Tweet kann ebenso binnen Sekunden in die Timelines tausender Menschen gespült werden wie ein hetzerischer.

Nachdem Kommunikation bekanntermaßen keine Einbahnstraße ist, bedeutet das aber auch: Mut zum Selbstschutz. Maren Urner illustriert das mit einem rabiaten Beispiel: „Wenn uns jemand auf der Straße einen Sack über den Kopf ziehen und uns kidnappen würde, würden wir uns mit Händen und Füßen wehren. Warum sollten wir das in den sozialen Medien nicht auch tun?“ Blocken, entfolgen, ignorieren sind folglich kein Zeichen von Schwäche, sondern von bewusstem und gesundem Informationskonsum.

Über den Autor

Portrait of Matthias Kohlmaier, Senior Editor at LOOPING GROUP.

Matthias Kohlmaier arbeitet für die Looping Group als Senior Editor in München. Der Diplom-Sportwissenschaftler ist erfahrener Journalist und hat rund zehn Jahre lang als Redakteur der Süddeutschen Zeitung hauptsächlich über Themen aus den Bereichen Medien, Bildung und Politik geschrieben. Zuletzt hat er den Bundestagswahlkampf 2021 journalistisch begleitet. Seit April 2022 ist er bei der Looping Group Teil des Teams PR&Comms und für Konzeptionierung und Umsetzung diverser Formate verantwortlich.

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