Marketing im Superwahljahr 2024: Haltung zeigen oder nicht? 

Text von

Alfred Rinaldi, Director Strategy LOOPING ONE LINKEDIN

Artwork von Sofia Apunnikova, Senior Creative LOOPING ONE INSTAGRAM
22.02.2024 5 MINUTEN

  • 2024 werden 49% der Weltbevölkerung in 64 Ländern wählen – in einem Klima, das polarisierter ist, denn je.

  • Die Beachtung ökologischer und sozialer Standards in der Unternehmensführung wird als selbstverständlich vorausgesetzt – und Zuwiderhandlungen werden abgestraft.

  • Fünf Lehren aus vergangenen Markenpositionierungen können bei einer Entscheidung für dieses Jahr helfen.

Das neue Jahr hat kaum begonnen – und ist schon jetzt historisch. Von Indien über Taiwan, die USA und Mexiko bis hin zu Großbritannien und der EU werden 49% der Weltbevölkerung in 64 Ländern an die Urnen gehen, in einem Klima, das polarisierter ist, denn je. Können, ja sollen Marken sich in dieser Großwetterlage zu gesellschaftlichen Themen positionieren? Eines ist sicher: Sie sollten es sich zumindest sehr gut überlegen. Im besten Fall definieren sie schon jetzt eine Strategie, die Kosten und Nutzen einer Positionierung in Betracht zieht. 
Aber zuerst die Frage: Warum sollten Marken überhaupt zu gesellschaftlichen Themen Stellung nehmen? Sollten sie sich nicht lieber darauf beschränken, das Leistungsversprechen ihrer Produkte zu kommunizieren – ganz wie zu den Anfangszeiten des Marketings? 
 
Tatsache ist: ein ausschließlich profitorientiertes Agieren, bei dem es nur um die Bottom Line geht, ist in der heutigen Gesellschaft nicht mehr tragbar. Schon 2018 schrieb Larry Fink, Chef des weltgrößten Asset Managers Black Rock: „Society is demanding that companies, both public and private, serve a social purpose. To prosper over time, every company must not only deliver financial performance, but also show how it makes a positive contribution to society. Companies must benefit all of their stakeholders, including shareholders, employees, customers, and the communities in which they operate.” Ein abschreckendes Beispiel ist Monsanto, eine traditionsreiche – aber auch kontroverse – Marke, die vom deutschen Chemiekonzern Bayer AG erst aufgekauft und dann eingestellt wurde. 

Zwei Beispiele aus den USA zeigen Gefahren auf

Keine Marke kann es sich also mehr leisten, ESG-Kriterien außer Acht zu lassen. Die Beachtung ökologischer und sozialer Standards in der Unternehmensführung wird als selbstverständlich vorausgesetzt – und Zuwiderhandlungen werden abgestraft.

Darüber hinaus gibt es aber noch eine ganze Bandbreite anderer gesellschaftlicher Themen, zu denen sich Marken aufgrund äußerer Zwänge positionieren müssen oder aus freien Stücken positionieren wollen. Beides kann ihnen in der Redaktionellen Gesellschaft zum Verhängnis werden. 

Zwei Beispiele aus den USA – der wohl am stärksten polarisierten westlichen Demokratie – zeigen die Gefahren auf. Als Floridas konservativer Gouverneur Ron DeSantis das „Don‘t say gay“-Gesetz auf den Weg brachte, das den dortigen Schulen verbat, LGBT-Themen anzusprechen, machten Disney-Beschäftigte auf ihren Arbeitgeber Druck: Das Unternehmen sollte sein beträchtliches wirtschaftliches Gewicht einsetzen, um die Politik zur Umkehr zu bewegen. Es folgte ein erbitterter Kampf, in dem DeSantis Disney jahrzehntealte Privilegien entzog und einen Kulturkampf gegen „woke business“ ausrief.  

In einem aufgeladenen Klima ist es unmöglich, everybody’s darling zu sein

Auch mit seinen Produkten polarisierte Disney: Ein betont inklusives Remake von Schneewittchen und ein letzter, Gen Z-kompatibler Indiana Jones-Film stießen auf ein geteiltes öffentliches Echo, um es gelinde zu sagen. So floppte Indiana Jones and the Dial of Destiny am Box Office und bereitete der glorreichen Franchise ein klägliches Ende. Und auf den kommerziellen Erfolg des neuen, zwergenlosen Snow White-Films darf man zumindest gespannt sein: Er verspätet sich nach heftiger Vorabkritik und wird wohl weniger polarisieren. Aus seinem Tief wird er den Unterhaltungsriesen kaum reißen: Derzeit ist Disneys Aktienkurs so niedrig wie schon seit zehn Jahren nicht mehr. Der neue (alte) Disney-Boss Bob Iger betreibt Schadensbegrenzung: Vor ein paar Monaten versprach er Investor:innen, in Zukunft mit Culture Themen „weniger Lärm“ zu machen.

Zweites Beispiel: Als Bud Light mit der Transfrau und TikTok-Influencerin Dylan Mulvaney kooperierte, um angesichts stagnierender Umsätze jüngere Zielgruppen zu erobern, zeigte die Redaktionelle Gesellschaft ihr weniger charmantes Gesicht: Der Sänger Kid Rock, eine Ikone der US-amerikanischen Rechten, schoss mit seiner Maschinenpistole einen Turm Bud Light-Dosen über den Haufen – und zwar ohne sie vorher auszutrinken. Noch dazu beschimpfte er den Bud Light Mutterkonzern Anheuser Busch auf unflätigste Art. Das Video trat einen noch nie dagewesenen Shitstorm los, von dem sich die Marke bis heute nicht erholt hat. Bud Light, einst Amerikas beliebtestes Bier, musste den Top Spot ausgerechnet an seinen mexikanischen Mitstreiter Modelo abgeben. Dass Bud Light inzwischen eingeknickt ist und wieder ganz bewusst eine konservative Klientel hofiert, indem die Marke ausgerechnet die hypermartialische und Trump-affine Ultimate Fight Championship (UFC) sponsort, wirkt wie zynischer Opportunismus: Die LGBT-Community fühlt sich benutzt und im Stich gelassen. Vielleicht dachte Bud Light, man könne eine spitze, progressive Zielgruppe ansprechen, ohne dass konservative Milieus etwas davon mitbekämen. Ein fataler Irrtum. 

Fazit: In einer so erhitzten Redaktionellen Gesellschaft wie der heutigen ist es unmöglich, everybody’s darling zu sein. Marken können – wie Apple – die User Benefits ihrer Produkte kommunizieren oder über eine Purpose-Positionierung relevante Zielgruppen ansprechen. Dabei sollten sie die Risiken, die sie eingehen, kalkulieren und einpreisen. Ein Element der Unvorhersehbarkeit gibt es dabei immer. 

Welche Lehren sollten Marken hieraus ziehen – vor allem in diesem schicksalsträchtigen Jahr?

1. Studiere das Terrain:

2. Mache eine Kosten-Nutzenrechnung:

Jede Haltung hat ihren Preis. Die einen Zielgruppen werden sie honorieren, die anderen werden sich entrüsten. Mittel- und langfristig sollte eine Positionierung mehr Kunden anziehen als abstoßen – tatsächlich ist im 24-hour-newscycle selbst ein mittelgroßer Shitstorm bald Vergangenheit. Ein Restrisiko bleibt dabei jedoch immer: Gesellschaften sind zu komplex, um die Resonanz einer Kampagne wissenschaftlich antizipieren zu können.

3. Sei konsequent und verliere nicht die Nerven:

Selbst, wenn ein Shitstorm kurzfristig einer Marke schadet: In den meisten Fällen folgt eine Erholung. Nike ist hierfür das Paradebeispiel. Mit seinem Engagement für den Black Lives Matter-Aktivisten Colin Kaepernick bezog der Sportartikelhersteller reichlich Prügel von rechts: Nikes Aktienkurs brach um 3% ein, hatte sich aber nach nur wenigen Wochen schon mehr als erholt. Glaubwürdigkeit wird honoriert, Wankelmut erntet bestenfalls Mitleid.

4. Mache einen Wertecheck:

Passt eine gesellschaftliche Haltung zur value proposition der Marke? Lässt sie sich aus ihrem Purpose ableiten? Patagonias ökologische Mission ist ein organischer Fit zum Naturfreund- und Entdeckerethos seiner Zielgruppe. Bud Light aber war eine amerikanische Ikone – und hatte mit trans issues nur bedingt etwas zu tun. Eine Kampagne, die zeigt, wie Bud Light zerstrittene Amerikaner:innen wieder zusammenbringt, hätte neue Zielgruppen erreichen können, ohne alte zu verprellen. Mit seiner Open to all-Kampagne von 2017 machte Heineken 0.0 vor, wie es geht.

5. Einfach mal nichts sagen ist auch eine Option:

Eskapismus und gute Vibes sind gerade für Marken mit breiter Zielgruppe durchaus valide – man denke hier an die Weihnachtsspots der Supermarktketten. Indem sie sich auf das konzentrieren, was Menschen aller Couleur verbindet, können große Marken die gesellschaftliche Temperatur senken und sich selbst vor Unbill schützen. Denn inzwischen halten es immerhin 58% amerikanischer Konsument:innen für unangebracht, wenn Marken sich politisch engagieren.So verwundert es auch nicht, dass Unilevers neuer CEO Hein Schumacher das „Purpose Marketing“ für sein Markenportfolio auf den Prüfstand stellt.  

Zur Person

Alfred Rinaldi ist seit 2021 bei der LOOPING GROUP und als Director Strategy bei LOOPING ONE für ein großes Kundenportfolio tätig. Zu seinen Schwerpunkten zählen Marken- und Kommunikationsstrategien sowie Branding und Narrativentwicklung.

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