Wie die Proteste im Iran die Stärken und Grenzen der Redaktionellen Gesellschaft offenlegen 

Text von

Narges Derakhshan, Editor LOOPING GROUP

Foto von

LOUISA GOULIAMAKI/AFP via Getty Images
13.10.2022 5 MINUTEN

  • Die Demonstrationen derzeit im Iran sind anders als alle vorherigen Proteste: Angeführt von jungen Frauen, dezentral und divers. Über Social Media gewinnen sie weltweit Aufmerksamkeit und Unterstützung.

  • Doch ihre größte Stärke könnte auch ihre große Schwäche sein.

  • Die Werkzeuge der Redaktionellen Gesellschaft stehen auch dem Regime zur Verfügung – das alle Mittel einsetzt, um die Proteste zu unterdrücken.

8. März 1979: Tausende iranische Frauen ziehen auf die Straßen. Sie demonstrieren gegen das von Ayatollah Khomeini durchgesetzte islamische Gesetz, das den Hidschab über Nacht zur Pflicht macht und den Frauen alle Rechte entzieht – darunter das Sorgerecht für ihre Kinder im Falle einer Scheidung und sogar das Recht, ohne die Zustimmung ihres Mannes zu reisen. Unter den Demonstrantinnen sind Lehrerinnen, Anwältinnen und Hausfrauen. Aber islamische Zeitungen beschreiben die Demonstrantinnen damals als eine Versammlung von „ein paar hundert Schlampen“. 

Da es 1979 keine alternativen Medien im Iran gibt, ist die Bewegung kaum in der Lage, die Öffentlichkeit zu erreichen. Die analoge Welt kann die iranische Regierung kontrollieren, mit Zensur und Gewalt.

Doch mit der Verbreitung des Internets und dem Erstarken der Redaktionellen Gesellschaft entziehen sich immer mehr iranische Bürger:innen der Kontrolle. Über Instagram, Telegram und andere Channels erleben sie, wie ihre Familien im Ausland leben. Sie sehen: Freiheiten, von denen sie im Iran nur träumen können, sind anderswo Selbstverständlichkeiten. 

Ich bin im Iran aufgewachsen und habe in meinen 28 Jahren dort nur ein einziges Mal eine Frau ohne Hidschab auf einer iranischen Straße gesehen. Mir wurde gesagt, dass sie psychische Probleme hatte und sich nicht an die neuen islamischen Regeln anpassen konnte. Entfremdet in der Stadt war sie eine Erinnerung an die freie Zeit im Iran, in der Frauen einen freien Kopf haben durften. Jahre später eröffneten die sozialen Medien mir und allen anderen Iraner:innen entgegen aller Filterung eine neue Welt. Eine Welt, in der das Motto der Proteste von 2022 – „Frauen, Leben, Freiheit“ – kein Schlachtruf ist, sondern ihre Forderung Alltag.

Von FOMO zu sozialer Gerechtigkeit

Sprung in den September und Oktober 2022: Seit mehr als drei Wochen nehmen die Proteste im Iran zu. Organisiert werden sie vor allem von jungen Frauen. Frauen, deren Rechte seit der Islamischen Revolution von 1979 stark eingeschränkt sind und deren Stimmen seitdem kaum gehört werden. 

Der Auslöser war der Tod von Mahsa Amini, auch bekannt als Jina. Einer 22-jährigen Kurdin, die starb, nachdem sie von der so genannten „Sittenpolizei“ des Irans verhaftet worden war, weil sie einen „unangemessenen Hidschab“ trug.

Diesmal beschränkten sich die Proteste nicht auf die Straßen Irans. Sie verbreiteten sich blitzschnell und global in den Sozialen Netzwerken.  

Ein Name wird zum Symbol

Iraner:innen beginnen, Mahsa Aminis Geschichte online zu teilen unter #مهسا_امینی (#MahsaAmini auf Persisch). Bald werden die üblichen Reisebilder und Selfies durch ein einziges Bild ersetzt. Innerhalb weniger Tage erlangte #Mahsaamini internationale Aufmerksamkeit auf Social-Media-Plattformen wie Instagram und Twitter, und viele internationale Aktivist:innen, Künstler:innen und Influencer mit vielen Followern und einer großen Reichweite reagierten auf ihren tragischen Tod.

Das iranische Regime reagierte mit Abschalten. Nach Angaben von NetBlocks kam es am Abend des 19. September 2022 in Teilen Kurdistans im Iran zu einer fast vollständigen Unterbrechung des Internetdienstes und schließlich zu einer Abschaltung der Mobilfunknetze im Land während der letzten Wochen. 

Doch die Regierung konnte die Bewegung damit nicht ganz zum Schweigen zwingen: Bilder und Videos iranischer Frauen, die ihren Hidschab ablegen und ihre Haare abschneiden, wurden in den sozialen Medien mehr als 130 Millionen Mal unter dem Hashtag #mahsamaini gepostet und führten zu internationaler Solidarität mit der Bewegung. Gruppen wie Anonymus starten Hacker-Attacken auf die iranische Polizei und den Geheimdienst, Elon Musk aktiviert seinen Satelliten-Breitbanddienst Starlink für die Menschen im Iran, ausländische Politiker:innen kündigten Unterstützung an. 

Die Stärke der
sozialen Medien

All das ist lebenswichtig für die Proteste im Iran. Nicht ohne Grund reagierten die Demonstrant:innen mit Todesangst auf die Nachricht, dass die Regierung das Internet im Iran abschaltet. Ohne Aufmerksamkeit kann sich keine Revolution mehr durchsetzen. Die große Stärke von Social Media ist, dass diese Aufmerksamkeit heute leichter zu bekommen ist – wenn die richtige Geschichte erzählt wird. 

Und die Geschichte von Mahsa Amini ist, so zynisch das klingt, die richtige Geschichte: Sie ist tragisch, in wenigen Worten erzählt und für Menschen weltweit verständlich. Das sind die Zutaten, die unsere Redaktionelle Gesellschaft mit ihrer kurzen Aufmerksamkeitsspanne und emotionaler Übersättigung braucht, um ein Thema überhaupt erst zu bemerken.

Social Media kann ein Trigger für Bewegungen sein. Die Plattformen eignen sich hervorragend, um auf ein wichtiges Problem hinzuweisen, erste Unterstützung zu mobilisieren, und die Propaganda der Mächtigen mit Videos, Fotos und Fakten widerlegen. Doch damit endet die Macht der Sozialen Medien – überschätzt man ihren Einfluss, kann das der Bewegung sogar erheblich schaden. 

Die Schwäche der
sozialen Medien

Ein Post, und man kann sich guten Gewissens zurücklehnen und denken: „Ich habe meinen Beitrag zu den Protesten geleistet!“ Dieses wohlige Gefühl der Beruhigung lösen die sozialen Medien aus. Demonstrieren, ohne das Bett zu verlassen. Schön wär’s. 

In meiner Timeline lese ich von im Iran lebenden Freund:innen nur noch eine einzige Aufforderung: „Ab auf die Straße!“ Hier findet der wahre Protest statt: Nicht in Sicherheit zuhause, sondern unter Lebensgefahr auf den Straßen, in den Universitäten, auf den Marktplätzen. 

Genau genommen ist selbst das nur der sichtbarste Teil einer Revolution. Denn wer wirklich etwas verändern will, schafft das auch nicht durch Demonstrationen allein. Erfolgreiche Veränderungen werden monatelang vorbereitet. Strukturen müssen aufgebaut und erprobt, Bündnisse geschlossen, Verhandlungen geführt werden – auch und insbesondere mit den Gegnern. Ein großer Teil jeder Reform oder Revolution findet hinter verschlossenen Türen statt.

In der Redaktionellen Gesellschaft ist es zwar leichter geworden, schnell sehr viele Menschen auf die Straße zu bringen. Doch genauso schnell kann diese Aufmerksamkeit wieder verschwinden. Sind dann nicht bereits die richtigen Strukturen etabliert, verpufft der Protest. 

Das gilt vor allem für Bewegungen, wie wir sie heute im Iran sehen: Dass sie Menschen aller Alters-, Gesellschafts-, Religions- und Einkommensgruppen mobilisiert ist eine große Stärke. Die Bewegung schließt iranische Bürger:innen aller Art ein, sie ist nicht von einer großen Führungsfigur abhängig. Durch ihre dezentrale, basisdemokratische Natur ist sie aber gleichzeitig anfällig für Chaos – und angreifbar für die iranische Regierung. 

In den letzten Jahren sank die Erfolgsquote gewaltfreier Proteste

Auch die iranische Regierung weiß die Mittel der Redaktionellen Gesellschaft für sich zu nutzen: Überwachung war noch nie so umfassend möglich wie heute. Die Regierung versucht, populäre Social-Media-Plattformen durch eigene, von ihr genehmigte Versionen wie Rubika zu ersetzen, wo es für sie noch einfacher ist, die Informationen zu kontrollieren.

Eine Studie der Harvard-Professorin Erica Chenoweth hat sogar ergeben, dass von 2010 bis Mai 2016 die Erfolgsquoten gewaltfreier Proteste drastisch gesunken sind. Repressionen wie diese sieht die Politikwissenschaftlerin als einen der wichtigen Gründe dafür.

Ja, die sozialen Medien sind für die Demonstrant:innen eine Chance – aber ebenso für die iranische Regierung. Bringt das iranische Regime die Stimmen der Demonstranten durch brutale Unterdrückung auf den Straßen und alte Propagandamethoden in den sozialen Medien zum Schweigen? Gewinnen wird nur, wer es schafft, die Werkzeuge der alten Welt mit denen der ju Redaktionellen Gesellschaft besonders klug zu verknüpfen. 

Zur Person

Narges Derakhshan arbeitet als Redakteurin bei der LOOPING GROUP. Sie wuchs in Teheran auf und drehte ihren ersten Film im Alter von 16 Jahren (ausgezeichnet mit dem Innovative Perspektive Award). Sie studierte Theaterregie in Teheran und sammelten sie Erfahrungen als Schauspielerin, Autorin und Texterin. Sie setzte ihre Karriere in der Werbung als Drehbuchautorin, Creative Director und Texterin fort. 2016 zog sie nach Deutschland, wo sie ihren zweiten Bachelor abschloss und derzeit ihren Master in Drehbuch/Dramaturgie macht.

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