Zehn Thesen über die Redaktionelle Gesellschaft

100 mal P!NG

Text von

Bernadette Mittermeier, Editor-in-Chief P!NG LINKEDIN

Foto von

Dylan Sean Gruner LINKEDIN
02.03.2023 5 MINUTEN

  • P!NG feiert seine 100. Newsletter-Ausgabe!

  • Aus diesem Anlass haben wir die zehn wichtigsten Erkenntnisse aus 100 Ausgaben gebündelt.

  • So verändert die Redaktionelle Gesellschaft, wie wir kommunizieren, arbeiten und zusammenleben.

1. Informationsmonopole gibt es nicht mehr.

Die alten Wächter der Kommunikation – die Medienhäuser, die Pressestellen, die Regierungen – haben ihr Monopol verloren. In der Redaktionellen Gesellschaft verläuft Kommunikation nicht mehr einseitig. Abos werden gekündigt, Pressemeldungen hinterfragt, und wer das schlimmste aller Vergehen begeht – sein Publikum zu langweilen – der wird in die Bedeutungslosigkeit verbannt. Das Publikum will gleichberechtigt mitmischen, wir alle sind heute Sender und Empfänger zugleich. Die Kommunikation ist diverser, demokratischer und lauter geworden.

2. Wir sind alle Individuen. (Ich nicht.)

Wie erreicht man Individuen? Indem man sie individuell anspricht. Das heißt: mit Geschichten, die auf die persönlichen Interessen und Bedürfnisse der Zielgruppen angepasst sind. Du musst nicht von allen geliebt werden. Sondern nur von den Richtigen. Also: Mut zur Entschiedenheit, Mut zur Zuspitzung, Mut zur Nische!

3. Perfektion ist out. Realness ist in. 

Embrace the cringe: Wir schätzen Menschen, wenn sie „authentisch“ sind. Auch dann, wenn das echte Ich etwas peinlich ist. Echte Begeisterung und das Selbstbewusstsein, zu Fehlern zu stehen, sind sympathischer als Marmor-Persönlichkeiten. Einen Fehler zu verstecken, funktioniert in der Redaktionellen Gesellschaft ohnehin nicht mehr.

Das gilt auch und sogar vor allem für Leader – im Unternehmen wie in der Politik. Unsicherheit zuzugeben ist ein Zeichen von Stärke. Leader wie Jacinda Arden in ihrer Rücktrittsrede machen es vor.

4. Daten bauen das Haus. Aber erst Geschichten füllen es mit Leben

Daten seien wertvoller als Öl, hieß es lange in Marketingkreisen. Oder wie der Ex-Disney Plus-Manager Kevin Mayer sagte: „Math Men are the new Mad Men.“

Beides stimmt – aber trifft es doch noch nicht ganz. Daten sind kein Öl. Sie sind vielmehr wie Zement: Ein wichtiger Rohstoff, um ein Haus zu bauen. Aber das Haus wird damit allein noch nicht bewohnbar. Es braucht mehr, um ein Zuhause zu werden. In der Redaktionellen Gesellschaft reicht es nicht aus, Daten zu sammeln und zu verstehen. Wer Menschen begeistern will, muss Geschichten erzählen. Daten können dabei helfen, aber sie sind weder der einzige Rohstoff, noch ersetzen sie (erzählerisches) Handwerk.

5. Künstliche Intelligenz ist heute weder künstlich noch intelligent – aber wird dem Hype trotzdem gerecht. 

An Chat-GPT kommt heute niemand mehr vorbei, und das wird auch so bleiben. KI-Programme können texten, Bilder generieren, SEO optimieren, programmieren, Fragen beantworten – und das alles in Sekundenschnelle. Sie machen das Arbeiten zweifellos einfacher und effizienter. KI-Bots werden die Redaktionelle Gesellschaft radikal verändern. 

Aber der Begriff KI – Künstliche Intelligenz – ist noch deutlich zu hoch gegriffen. Die wirklich interessanten Ergebnisse, die Chat-GPT so ausspuckt, kommen durch interessante Prompts zustande. Keine „künstlichen“ Eingaben, sondern ein Einfall eines Menschen, der eine spannende Frage stellt. Und die Outputs als „intelligent“ zu bezeichnen ist noch übertrieben – Chat GPT kann zum Beispiel weder Humor noch Fakten verlässlich prüfen, noch einen wirklich originellen Gedanken fassen. 

Noch nicht. Wenn die Entwicklung in diesem radikalen Tempo fortschreitet, könnte sich das bald ändern. 

6. Die sozialen Medien sind nicht mehr sozial.

Die wichtigsten sozialen Medien der vergangenen Dekade stecken in einer Krise, von der sie sich wohl nicht erholen werden: Facebook ist uncool, Instagram sucht nach seiner Identität, Twitter versinkt im Chaos. Die Gewinnerin heißt TikTok.

Doch auch wenn TikTok für GenZ wichtiger ist als Google, herrscht die Plattform nicht als alleinige Königin über die sozialen Netzwerke. Die Medienlandschaft wird fragmentierter, jede noch so kleine Communities findet ihre Nische.

Die sozialen Medien verschwinden also nicht, aber sie verändern sich radikal: Weg von öffentlichen, sozialen Debatten. Hin zu von Algorithmen gesteuertem Entertainment. Der größte Konkurrent von Netflix heißt nicht Disney oder Amazon. Sondern TikTok.

Bei dieser Masse an Nischen und Angeboten ist nicht mehr entscheidend, möglichst viel Content zu produzieren. Angebote gibt es mehr als genug – ein Netflix-User braucht im Schnitt schon 18 Minuten, um sich für eine Serie oder einen Film zu entscheiden. 

Das Publikum ist überfordert, weil die Zahl der Empfänger gleichgeblieben ist, während die Zahl der Sender immer weiter gestiegen ist. Entscheidend ist darum neben der Qualität des Angebots auch die Kuratierung: Die Zielgruppen brauchen Orientierung, welche der vielen Angebote für sie persönlich passen und ihre begrenzte Zeit wert sind. TikTok ist vor allem deshalb so bahnbrechend und erfolgreich, weil es diese Kuratierung automatisiert und perfektioniert hat. Als User muss ich nicht einmal mehr entscheiden, wem ich folgen soll.

7. Die Traditionsmedien brauchen keinen Relaunch, sondern ein radikales Umdenken. 

Das Kernprodukt der Massenmedien, die Nachrichten, ist inflationär vorhanden. Jeder User mit einem Smartphone kann heute Nachrichten produzieren. Die meisten nicht auf dem handwerklichen Niveau wie ein ausgebildeter Journalist, und nicht so unabhängig, verlässlich und kritisch wie die guten unter ihnen. Aber wir werden immer und überall von Nachrichten überschwemmt, während die Zeitungen auf der Titelseite noch die Schlagzeilen von gestern drucken.

Für den Journalismus bedeutet das: Wir müssen uns von „der Simulation von Allwissenheit, der Rolle des Predigers, des Pädagogen und des autoritär auftretenden Wahrheitsverkünders verabschieden.“ Das schrieb Bernhard Pörksen, der den Begriff Redaktionelle Gesellschaft in Deutschland geprägt hat, in seinem P!NG-Gastbeitrag. Er stellt zwei Imperative auf: 
I.    „Gebe Deinem Publikum jede nur denkbare Möglichkeit, die Qualität der von Dir vermittelten Informationen einzuschätzen!“ 
II.    „Begreife die eigene Kommunikation nie als Endpunkt, sondern immer als Anfang und Anstoß von Dialog und Diskurs.“

Sieht man sich die Entwicklungen der letzten Jahre an, lautet die Reaktion vieler Verleger dagegen oft: Kürzen von Abteilungen, Streichen von Magazinen, und der Versuch, das Produkt in die Onlinewelt zu verlagern. Wenn der Journalismus aber überleben soll, wird das nicht reichen. Statt Schönheitskorrekturen und Sparprogrammen ist ein radikales, unternehmerisch mutiges Umdenken erforderlich. Keine Relaunches sind gefragt, sondern neue Geschäftsmodelle.

8. Wissenschaftler:innen müssen die neuen Rockstars werden. 

Einer von sechs US-Amerikaner:innen ist sich „nicht ganz sicher“, ob die Erde wirklich rund ist. Bevor jetzt jemand über „die Amis“ mal wieder lächelt – die Corona-Pandemie hat in Deutschland eindeutig gezeigt, dass auch hier gravierende Bildungslücken gibt. Selbst die Wissenschaftsressorts waren überfordert und verbreiteten zahlreiche Enten. Dass dieses Nicht-Wissen lebensbedrohlich werden kann, hat die Pandemie ebenfalls erwiesen. 

Nicht nur die Unwissenheit wird zur Gefahr, noch bedrohlicher ist die bewusste Verbreitung von Lügen. Fake News werden mit 70 % höherer Wahrscheinlichkeit retweetet als wahre Geschichten und verbreiten sich sechsmal schneller.

Die gute Nachricht: Wissenschaftler:innen müssen in der Redaktionellen Gesellschaft nicht länger darauf vertrauen, dass die Schulen und Medien es schon richten werden. Sie können direkt mit den Menschen kommunizieren, Fragen beantworten, aufklären.

9. Die Macht hat sich nach „unten“ verlagert.

Die eingangs beschriebene Demokratisierung der Kommunikation führt zu einer Machtverlagerung, und die ist am stärksten im Berufsleben: Eine neue Generation hat erkannt, dass sie Forderungen stellen kann – Talente sind begehrt. 

Auf den sozialen Medien können sie selbst ihre Marke aufbauen. Das führt dazu, dass sie sich mehr mit sich selbst und ihren Bedürfnissen und Zielen beschäftigen. Selbstoptimierung, persönliches Wachstum, aber auch Self Care stehen im Mittelpunkt. Von ihren Arbeitgeber:innen fordern sie längst nicht mehr nur Gehalt und Stabilität, sondern Antworten auf die Fragen: Wer sind „wir“ als Unternehmen? Vor allem: Wo wollen „wir“ hin“?

10. Bleibt optimistisch. 

P!NG gibt es nun seit rund drei Jahren. Es waren für die Redaktionelle Gesellschaft keine leichten Jahre. 2020 begann die Pandemie, die Folgen sind bis heute jeden Tag zu spüren. Russland hat die Ukraine überfallen, die Gräben der gesellschaftlichen Spaltung wachsen, einer Lösung für die Klimakatastrophe sind wir auch nicht nähergekommen. 

Das sind alles wichtige Themen, über die gesprochen werden muss. Aber weder Schockstarre noch Aufregung helfen weiter. Wer in der Redaktionellen Gesellschaft erfolgreich kommunizieren – und damit die Welt um sich verändern – möchte, der muss optimistisch bleiben. Den Spaß, die Leichtigkeit, den Blick für die nicht verlieren, die etwas bewirken und Gutes tun. 

Wie der LinkedIn-Gründer Reid Hoffman im ersten Interview gesagt hat, das je bei P!NG erschienen ist: „Es ist fast unsere moralische Pflicht, an Utopien festzuhalten und zu versuchen, auf diese Möglichkeiten hinzuarbeiten. Alles andere wäre unverantwortlich.“ 

Zur Person

Bernadette Mittermeier ist Chefredakteurin von P!NG und Director Editorial bei der LOOPING Group. Neben P!NG betreut sie bei LOOPING eine Reihe von Projekten, für diverse Kunden von Netflix und Tina Turner über NGOs bis zu Großunternehmen. Sie machte ihre Ausbildung zur Journalistin an der Deutschen Journalistenschule in München und arbeitete frei als Journalistin, bevor sie 2019 zu LOOPING kam.

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